Im Sattel der Revolution

Achtzig Jahre nach seinem Tod erscheinen Erich Mühsams Tagebücher aus dem Jahr 1919 und ein biografisches Lesebuch

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 10. Juli 2014 jährt sich zum achtzigsten Mal der Todestag Erich Mühsams. Im Alter von 56 Jahren war der anarchistische und pazifistische Autor und Aktivist von SS-Männern im Konzentrationslager Oranienburg ermordet worden. Dieser Jahrestag gibt Anlass, einmal mehr an Mühsam, den leidenschaftlichen Streiter wider Staat und Kapitalismus, zu erinnern, und dazu bieten umso mehr zwei neue Publikationen Gelegenheit, die soeben im Berliner Verbrecher Verlag erschienen sind. Zum einen haben Markus Liske und Manja Präkels ein Lesebuch zusammengestellt, welches Mühsams Biografie und literarische wie politische Texte aus seiner Feder in dichter und abwechslungsreicher Weise aufs Neue vorstellt. Und zum anderen liegt nun auch der sechste Band der auf 15 Bände angelegten Ausgabe der Tagebücher Erich Mühsams vor.

Mit diesem neuen Band erreicht die nicht nur durch ihren Umfang sehr beeindruckende Tagebuch-Edition einen neuen Zeitabschnitt. Es handelt sich um die Hefte 22 und 23 der insgesamt 42 von Mühsam zwischen 1910 und 1924 beschriebenen Tagebuchbänden, ein alles in allem viele tausend Seiten umfassendes Werk, das – mit Ausnahme der wenigen verschollenen Hefte – nun seit einiger Zeit im Halbjahresrhythmus Schritt für Schritt erscheint. Eine Fundgrube nicht allein für Mühsam-Enthusiasten. Der sechste Band nun widmet sich auf über 400 Druckseiten einem Zeitraum von nur wenig mehr als einem halben Jahr, April bis November 1919. Gegenüber dem Vorgängerband der Tagebücher bedeutet das einen Sprung von etwa zweieinhalb Jahren, hinweg über einen politisch nicht eben ereignisarmen Zeitraum zwischen Krieg, Revolution und neu zu findender Nachkriegsordnung, für den uns Mühsams Tagebuchaufzeichnungen leider nicht überliefert sind. Seine Aktivitäten insbesondere im Zusammenhang mit dem Umsturz in Bayern bleiben daher weitgehend im Dunkeln. Wie gehabt, so ist auch dieser neuerschienene Band parallel online veröffentlicht worden und digital durch ein detailliertes Register, Faksimiles der Handschrift und zusätzliche Dokumente erschlossen. Der jüngste Band bestätigt so erneut die große editorische Leistung der Herausgeber und des Verlages.

Im April 1919 aber finden wir Leser Mühsam, einmal mehr, im Gefängnis. Er eröffnet sein neues Tagebuchheft am 27. April, eben erst hat man ihn von München ins Zuchthaus nach Ebrach, unweit von Bamberg, verbracht: „Und heute sinds grade 14 Tage her, daß morgens 3 Soldaten der sogenannten Republikanischen Schutztruppe bei uns erschienen und mich ohne schriftlichen Ukas, im Auftrage einer sogenannten sozialdemokratischen Revolutionsregierung verschleppten, die sich nachträglich auf Strafgesetzbuchparagraphen besann, um ihrem Gewaltakt ein Rechtsmäntelchen umzuhängen.“ In diesen Zeilen deuten sich mindestens zwei der zentralen Themen dieser beiden Tagebuchhefte an: einerseits die Gefangenschaft und der gegen Mühsam geführte Hochverratsprozess. Diese Wochen in Ebrach werden zum Anfang einer schließlich fünfjährigen Haftzeit in bayerischen Gefängnissen. Und andererseits die Enttäuschung über den empfundenen Verrat der Sozialdemokraten an der revolutionären Sache.

Zur gleichen Zeit ist der Krieg auf dem Papier zwar seit einigen Monaten vorbei, aber nicht nur durch die andauernden Friedensverhandlungen in Versailles weiterhin latent. Es scheint nicht einmal ausgeschlossen, dass Deutschland gegen als unerträglich empfundene Bedingungen dieses Friedens wieder zu den Waffen greifen könnte. Aber auch im Land selbst droht der Bürgerkrieg. Während Mühsam im Ebracher Gefängnis sitzt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als der propagandistisch gefärbten Presse und dem Hörensagen das Schicksal der Münchner Räterepublik zu entnehmen, an deren Etablierung er sich wenige Tage zuvor noch selbst beteiligt hatte. Dass man ihn ins Zuchthaus verbracht hat, mag Mühsam jedoch das Leben gerettet haben. Denn durch seine Gefangennahme entgeht Mühsam dem Schicksal vieler seiner Mitstreiter, von denen nicht wenige der von der sozialdemokratischen bayerischen Regierung im Verbund mit Reichswehr und rechtsradikalen Freikorps angestrengten blutigen Niederschlagung der Räterepublik zum Opfer fallen oder später hingerichtet werden. „Landauer tot“, muss er so am 6. Mai nachmittags notieren. „Ich will und kann es nicht für möglich halten und muß es doch glauben. Nur ein kleines Restchen Hoffnung, daß es vielleicht doch nicht wahr sei, ist noch da, und an das klammere ich mich.“ Es ist eine Hoffnung, die enttäuscht wird.

Auch seine Erwartung, überall in Deutschland könnten die Arbeiter sich nun erheben und endlich der Revolution und einer anarchischen Räterepublik zur Durchsetzung verhelfen, bleibt vergeblich. Aus seiner Zelle verfolgt Mühsam die ihn erreichenden Nachrichten aus Bayern und der Welt, und er legt seine Gedanken dazu in aller Ausführlichkeit im Tagebuch dar. Es entsteht ein beeindruckendes, sehr unmittelbares Dokument dieser Wochen, in denen Mühsam seinen Aktivismus auf das Papier beschränken muss. Man liest über seine Sorgen um seine Frau Zenzl, von der er erst über Wochen nichts hört, bis er erfährt, dass sie sich rechtzeitig aus München in Sicherheit gebracht hat. Und auch seinen Zorn schreibt Mühsam ungeschmälert nieder. Von nichts scheint er derart angewidert, wie von der Haltung der Sozialdemokraten, die die Revolution verraten und um ihrer gerade erst erreichten Macht willen gar mit den übelsten Reaktionären paktieren.

Der zweite Teil des Bandes führt Mühsam und seinen Leser dann weiter bis in den November des Jahres 1919. Am Tag bevor in Versailles der Friedensvertrag von der protestierenden deutschen Regierung unterzeichnet wird – für das Gejammer in der heimischen Presse und Politik hat Mühsam kaum mehr als Hohn und Spott übrig –, überstellt man ihn nach München zurück, wo im Juli der Prozess wegen Hochverrats gegen ihn stattfindet. Am 12. Juli notiert er über das Urteil: „Nun wissen wir also Bescheid. Wenn es nach dem Willen des Standgerichts geht, habe ich die nächsten 15 Jahre meines Lebens in Festungshaft zu verbringen. Ich denke, daß die Dauer meiner Absperrung zwischen 15 Wochen und 15 Monaten betragen wird, jedenfalls aber das Ende der ‚Strafe’ dem 15ten Tage näher liegen wird als dem 15ten Jahre.“ Damit sollte er Recht behalten, wenn auch sein revolutionärer Optimismus trügt: „Ich pflege es so auszudrücken: Uns geht es jetzt, wie es der Entente 4 Jahre lang gegangen ist, – eine Niederlage nach der andern, aber der Endsieg ist uns gewiß.“ (1. August 1919)

Einen im Vergleich zu diesem Tagebuchband deutlich weiteren Zeitraum deckt dagegen das neue Erich-Mühsam-Lesebuch ab. Die Zeit der Gefangenschaft zwischen 1919 und 1924 fällt hier in die Mitte eines reichen Lebens, das mit gutem Grund in seiner politischen Folgerichtigkeit und Konsequenz immer hervorgehoben wird und dennoch nicht ohne Wendungen bleibt. Wie sehr sich beispielsweise der revolutionäre Aktivismus Mühsams in der Nachkriegszeit und die folgenden Jahre der Gefangenschaft von der Bohème-Zeit mit ihren – in früheren Tagebuchbänden nachzuvollziehenden – erotischen und anderen Eskapaden unterscheidet, das lässt sich anhand der kurzen Aufsätze, Textauszüge und Gedichte des Lesebuchs gut nachverfolgen. Natürlich bemerkte Mühsam das auch selbst. In seinen „Unpolitischen Erinnerungen“ sollte er später schreiben – dieser Auszug ist auch im Lesebuch wiedergegeben: „‚Sie reiten stehend auf zwei Gäulen‘, sagte mir einmal Frank Wedekind, ‚die nach verschiedenen Richtungen streben; sie werden Ihnen die Beine auseinanderreißen.‘ – ‚Wenn ich einen laufen lasse‘, erwiderte ich, ‚verliere ich die Balance und breche mir das Genick.‘ Heute stimmt das Bild nicht mehr. […] Wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, sitze ich nun fest im Sattel, wenn auch gerade auf dem Pferd, von dem Wedekind mich gern befreit gesehen hätte; das andere, das geflügelte, führe ich neben mit an der Trense und lasse mich nur in Feierstunden von ihm tragen. Ihr Futter aber erhalten beide aus derselben Krippe.“

Man möchte so ein Lesebuch für ein sehr gewagtes Unterfangen halten: Das Leben eines Autors aus seinen Texten vorstellen, notwendigerweise in einem hohen Grad an Verdichtung und das obwohl ein großer Teil des gerade noch im Erscheinen begriffenen Tagebuchs gar nicht vorliegt. Dennoch gelingt den beiden Herausgebern – unter der etwas apodiktisch vorgetragenen Prämisse, dass Leben und Werk Mühsams eben keinesfalls zu trennen seien – ihr Parforceritt durch die Vielfalt des Mühsam’schen Schaffens und Schreibens. Beginnend mit dem 1902 in der anarchistischen Zeitschrift „Der arme Teufel“ veröffentlichten Text unter dem für sich selbst sprechenden Titel „Nolo“ (Ich will nicht) eröffnen sie das Panorama eines Lebens von eigenartiger, beinahe unheimlicher Selbstkonsequenz und Bedingungslosigkeit. Am Ende stehen Auszüge aus Zenzl Mühsams erschütterndem Bericht über „Erich Mühsams Leidensweg“ in seiner Gefangenschaft nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Gerade im Hinblick auf die verdichteten Reflexionen Mühsams aus dem Jahr 1919 bietet sich die Lektüre dieser breiteren Perspektive auf einen Lebensweg an, der trotz Mühsams sehr stark an die eigene Zeit gebundenen politischen und gesellschaftlichen Publizistik unverändert beeindrucken muss.

Titelbild

Erich Mühsam: Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch.
Herausgegeben von Markus Liske und Manja Präkels.
Verbrecher Verlag, Berlin 2014.
352 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783943167849

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Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 6. 1919.
Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens.
Verbrecher Verlag, Berlin 2014.
360 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426826

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