Das Wesen der Erinnerung

Andreas von Flotows bemerkenswertes Debüt „Tage zwischen gestern und heute“ über eine schwierige Kindheit, die jäh zu Ende geht.

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch trägt den schönen Titel „Tage zwischen gestern und heute“, wurde von Andreas von Flotow geschrieben und ist (neben Heinz Helles „Der beruhigende Klang explodierenden Kerosins“) vielleicht das interessanteste Debüt des heurigen Frühlings. Wie so oft handelt es sich auch bei diesem Romandebüt um eine Adoleszenzgeschichte – allerdings um keine ganz gewöhnliche. Der Junge, um den es geht, ist das Kind einer berühmten Sängerin, die mehr mit ihrer Karriere beschäftigt ist als mit ihrem Kind. Den Vater, einen besessenen Leser, bekommt der Junge auch nicht allzu oft zu Gesicht, er lebt nicht bei der Familie. Die wichtigste Bezugsperson für den Jungen ist daher Helen, das Kindermädchen.

Die Umstände, unter denen der Junge aufwächst, sind also nicht ganz einfach. Aber es kommt noch viel schlimmer. Es passiert eine Katastrophe, die diese Kindheit jäh beendet: „Im Jahr 2005 sind meine Eltern Opfer eines Anschlags geworden, den mein Onkel, ein Halbbruder meiner Mutter, verübt hat“. Das volle Ausmaß der Tragödie wird bei Flotow schon mit dem ersten Satz benannt. Das muss man sich trauen: das dramatische Ende der Geschichte, den finalen Höhepunkt gleich am Anfang, im allerersten Satz der Erzählung, zu enthüllen. Der Leser weiß also sofort, worauf die gesamte Geschichte, die im Folgenden langsam aufgerollt wird, zusteuert. Das Spannungsmoment, das die Geschichte vorantreiben könnte, geht dadurch verloren. Machen kann man das nur, wenn man sich sicher ist, dass die Geschichte, die man erzählen will, genügend inhaltliche Substanz hat, wenn man sich sicher ist, dass man für den Leser andere, bessere Argumente bereithält, um ihn bei der Stange zu halten, als jenes profane der Spannung. Für einen Debütanten ist das durchaus mutig. Und bei Flotow geht es auch auf, denn er hat tatsächlich viel mehr zu erzählen als bloß eine spannende Geschichte.

Es ist das Bild einer schwierigen, einsamen, traurigen Kindheit, das Porträt eines Heranwachsenden, mit aller Verlorenheit, Verletzlichkeit, Verstörtheit, die zu diesem Lebensabschnitt dazugehört – hier drastisch zugespitzt durch die Tragik der Ereignisse –, das der Autor in einer Reihe von Erinnerung des Jungen mit einer ganz erstaunlichen sprachlichen Präzision und bemerkenswerter Empathie zeichnet. Da gibt es auf den ersten Blick so profan wirkende Erinnerungen wie einen Ausflug zur Pommes-Bude mit der Mutter, der für den Jungen zu etwas Besonderem wird, weil er die Mutter sonst kaum jemals zu Gesicht bekommt, und wenn doch, dann nur umgeben von ihrer „Entourage“; oder einen Urlaub in Frankreich, den Vater-Mutter-Kind ausnahmsweise zu dritt verbringen, als Kleinfamilie vereint; oder die Erinnerung an die vielen Kartons voller Bücher, die der Junge nach dem Tod des Vaters von ihm erbt und die ihm in dieser schwierigen, einsamen Zeit die besten Freunde werden – sehr zum Unmut seiner Großmutter, bei der der Junge nach dem Attentat an den Eltern lebt.

Auch wenn das die Geschichte einer ganz speziellen, besonders tragischen Kindheit in der Jetztzeit ist, so birgt sie doch auch einiges Zeittypisches in sich: Die Tragödie ist zunächst eine rein innerfamiliäre, die Ursache ihrer Zerstörung liegt – das ist durchaus exemplarisch für unsere Zeit – in ihr selbst, sie kommt nicht von außen; dass man die eigenen Eltern kaum zu Gesicht bekommt, dass deren Ehe nicht ganz unproblematisch ist, dass man als Einzelkind womöglich eine besondere Disposition zur Einsamkeit hat – an all das werden sich vermutlich recht viele Jugendliche von heute später erinnern, wenn sie an ihre Kindheit zurückdenken, so wie Flotows Erzähler das tut. Denn das ist das Besondere, das Flotows Debüt einen ganz eigenen Reiz gibt: die Perspektive des Erinnernden, aus der der Ich-Erzähler spricht.

Während klassische Adoleszenzgeschichten gern distanzlos von einem Ich-Erzähler geschildert werden, spricht bei Flotow nämlich zwar auch der Junge, um den es geht, selbst, allerdings im fiktiven Jahr 2031. Die schwierige Aufgabe, diese Distanz zwischen dem erzählenden erwachsenen Ich und dem erlebenden jugendlichen Ich glaubhaft zu transportieren, dafür eine Sprache zu finden, meistert Flotow grandios. Das Wesen der Erinnerung zu ergründen und der Frage nachzugehen, ob und inwiefern es möglich ist, Erinnerungen sprachlich einzufangen, Erlebnisse mit Worten wahrhaftig wiederzugeben und so das Wesentliche aus dem Sein herauszufiltern, das ist sozusagen der – überaus interessante, spannende, kluge – Sub-Text, den Flotow seinem Text zugrunde legt.

Flotow, Jahrgang 1981 hat Landwirtschaft, Volkswirtschaft und Geschichte studiert, in der Kunstbuchhandlung Walther König gelernt und als Dramaturg am Theater gearbeitet. Er hat also weder in Leipzig noch in Biel „literarisches Schreiben“ studiert. Und trotzdem kann er schreiben, sogar exzellent. Und nicht nur das: Er hat auch etwas zu sagen. „Tage zwischen gestern und heute“ ist ein makelloses Debüt: präzise, klug, berührend, mutig und von großer sprachlicher Schönheit.

Titelbild

Andreas von Flotow: Tage zwischen gestern und heute. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014.
176 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046352

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch