Religionsstiftung und Volkswerdung

Peters Sloterdijks Essay „Im Schatten des Sinai“

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit diesem schmalen Büchlein über die Anfänge der jüdischen Religion knüpft Peter Sloterdijk an seine umfangreicheren religionstheoretischen Publikationen an: „Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen“ (2007) und „Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik“ (2009). Viel Neues kann er nicht mehr vorbringen, sondern, wie er selbst einräumt, nur „Fußnoten“ zu bereits Gesagtem. Auch reiht er sich in eine große Tradition ein, die das, was vielleicht noch zu sagen wäre, von vornherein zu überschatten droht.

An Goethes Aufsatz „Israel in der Wüste“ in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans“, ein nach heutigen Maßstäben äußerst behutsamer Versuch, über die Ungereimtheiten biblischer Orts- und Zeitangaben aufzuklären, sei lediglich erinnert. Dass Sloterdijk Goethe übergeht, ist verständlich: Aus dieser Art Bibelkritik lassen sich keine Funken mehr schlagen. Weit weniger angestaubt dagegen sind die drei Abhandlungen des alten Freud „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, die Licht in die dunklen Anfänge der jüdischen Religion zu bringen suchen und dabei psychoanalytische Thesen rekapitulieren. Es ist befremdlich, dass sich Sloterdijk eine Auseinandersetzung mit Freud entgehen lässt. Dagegen nennt er Jan Assmanns „Mosaische Unterscheidung“ (2003) und deutet Überschneidungen mit dem eigenen Thema an.  

Unerwähnt bleibt Thomas Manns Novelle „Das Gesetz“, die ungeachtet ihres fiktionalen Charakters auf historischen Studien beruht (u. a. beschäftigte sich Mann mit Goethes „Divan“- Aufsatz und machte bei einschlägiger Freud-Lektüre sogar Anstreichungen), obwohl Sloterdijk sie einem fruchtbaren Vergleich mit den eigenen Überlegungen hätte unterziehen können. Denn zu seinen Hauptthesen gehört, dass die mosaische Gesetzgebung ein ethnoplastisches Regelwerk gewesen sei, und genau in diese Richtung zielt die Novelle, in der Mann die Moses-Gestalt nach Michelangelo porträtiert hat (nicht nach dessen berühmter Statue, sondern nach der Persönlichkeit des Künstlers). Aus dem widerstrebenden Rohstoff einer formlosen Ethnie schafft der Religionsstifter sein Kunstwerk, das Volk Israel. Ein prominenteres Beispiel für Ethnoplastik durch Religion hätte Sloterdijk kaum finden können.

Der Frage, wieweit eine Volksreligion erst einmal ein Volk voraussetzt, wird diskutiert, aber letztlich nicht beantwortet, weil Sloterdijk eine eindeutige Fragestellung, die zwischen einem Substrat und dessen Eigenschaften unterscheidet, nicht zulassen will – so scheint es wenigstens. Er geht vermutlich von Interdependenz aus. Immerhin wagt er die Behauptung, dass die jüdische Geschichte den bis auf Weiteres einzigartigen Fall darstelle, dass „nicht ein Volk, wie üblich, seine Religion hat, sondern dass eine Religion ihr Volk hat“. Entscheidend ist dabei Sloterdijks Definition von Religion als einem mentalen und rituellen Übungssystem, in dem äußerer Habitus und spirituelle Haltung einander durchdringen.

Das berührt einen für Sloterdijks Essay zentralen soziologischen Aspekt: Im Judentum ist Religion nicht in das Belieben des Einzelnen gestellt, sondern es herrscht das Prinzip der totalen Mitgliedschaft, und dieses Prinzip gibt zahlreichen biblischen Geschichten, die von einem Abfall Israels und der folgenden Bestrafung berichten, beginnend mit der Erzählung vom goldenen Kalb, die ethnogenetische Relevanz: außerhalb Israels kein Heil. Der Abscheu, die dem Renegatentum im Judentum und in den auf ihm fußenden monotheistischen Religionen entgegengebracht wird, unterstreicht, dass die religiöse Zugehörigkeit und damit die nationale unkündbar sind.     

Obwohl Sloterdijk auf Grund seiner Auffassung von Religion dem Begriff Monotheismus reserviert gegenübersteht, kann er nicht umhin, auf den vielfach konstatierten Zusammenhang von Monotheismus und religiösem Fanatismus einzugehen. Fraglos herrschte in den monotheistischen Religionen über Jahrhunderte ein Intoleranzgebot, doch ebenso fraglos sollte in modernen Gesellschaften das Toleranzgebot gelten. Zur „Domestikation des Eiferertums“ sucht Sloterdijk Hilfe bei fünf „Mentoren“: Erasmus von Rotterdam, Spinoza, William James (amerikanischer Psychologe, dessen Vorlesungen über die „Vielfalt religiöser Erfahrung“ Sloterdijk herausgegeben hat), Gershom Scholem und Jan Assmann. Jeder von ihnen mag für eine bestimmte Art des Religionsdiskurses stehen; nichtsdestoweniger wirkt die zusammengestückelte Auswahl keineswegs zwingend und scheint eher dem Wunsch geschuldet, nicht ohne einen halbwegs positiven Ausblick abzuschließen. Auch der Blick auf den Essay insgesamt erlaubt kein durchweg freundliches Urteil: Weithin geläufiges Wissen wird durch Sloterdijksche Begrifflichkeit verfremdet, was nicht völlig reizlos ist, aber der Eindruck des Déjà-vu herrscht vor.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Sloterdijk: Im Schatten des Sinai. Fußnote über Ursprünge und Wandlungen totaler Mitgliedschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
64 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126721

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