Moderne Rhetorikforschung?

Ein umfangreicher Sammelband zum Abschluss des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“ verspricht einen Überblick über „Klassische Fundamente“ und die „interdisziplinäre Entwicklung“

Von Wolfgang ImoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Imo

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Rhetorik hat eine wechselhafte Geschichte hinter sich, gehörte mal zum Kernbestand des (wissenschaftlichen) Denkens und Handelns, geriet dann als bloße Beeinflussungs- und Überredungskunst in Verruf und wurde schließlich als Grundlagendisziplin wiederentdeckt, die für zahlreiche wissenschaftliche Forschungsbereiche aktuell Relevanz besitzen kann.

Maßgeblich ist die Rhetorik natürlich immer noch in historisch orientierten Forschungsrichtungen, und so verwundert es nicht, dass der vorliegende Sammelband aus einem Symposium anlässlich der Fertigstellung des monumentalen „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“ (mit der Arbeit daran wurde 1985 begonnen) im Jahr 2012 hervorging. Der Sammelband enthält die beeindruckende Zahl von 49 Beiträgen (wenn man die Einleitung und das Nachwort mitzählt) auf fast 900 Seiten.

Die Beiträge werden nach groben – und in ihrer Zusammenstellung nicht immer nachvollziehbaren – Themenfeldern sortiert: Der erste Block vereint Beiträge zum Themenbereich „Klassische Rhetorik und Philosophie“, der zweite ist mit „Literarische Rhetorik“ betitelt, der dritte mit „Ethik und Jurisprudenz“, der vierte mit „Argumentation und Kommunikation“, gefolgt von „Bildung und Kulturtheorie“ und „Politische Rede“. Den Abschluss bildet ein Kapitel unter der Überschrift „Moderne Rhetoriktheorien“.

Die anvisierte Bandbreite an rhetorikbezogener Forschung zeigt sich bereits in den Kapitelüberschriften, dementsprechend ist positiv hervorzuheben, dass es sich um eine beeindruckende Sammlung von Arbeiten aus sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen handelt und dass unter diesem Aspekt dem Anspruch des Sammelbands, „klassische Fundamente“ ebenso wie die „interdisziplinäre Entwicklung“ der Rhetorikforschung darzustellen, durchaus Rechnung getragen wird. Nicht ganz unvermeidlich ist allerdings, dass die Menge an Beiträgen – ebenso wie die Heterogenität der Forschungsfelder – eine Ordnung nicht einfach macht. Positiv gewendet kann man diese Heterogenität als Beleg für die Vielfalt sehen; die im Großen und Ganzen sehr eklektisch wirkende Zusammenstellung kann so als ein ‚Wegenetz‘ aktueller Rhetorikforschung betrachtet werden. Negativ gewendet kann man sich allerdings dem Eindruck nicht ganz entziehen, dass es sich um einen ‚Kessel Buntes‘ handelt, bei dem zum Teil sehr bemüht um Kohärenz gerungen wurde. Dies wird teilweise schon in den Kapitelüberschriften deutlich, Grenzen zwischen „Argumentation und Kommunikation“ sowie „Politische[r] Rede“ sind natürlich nur schwer zu ziehen. Zudem ist unklar, wieso beispielsweise der Beitrag von Engels zum ‚Archimedes-Palimpsest‘ dem Themenbereich „Ethik und Jurisprudenz“ statt „Philosophie und Rhetorik“ zugeordnet ist, und auch die „Dialogrhetorik“ von Ueding wird dem Anspruch einer ‚modernen‘ Rhetoriktheorie nicht gerecht und hätte ebenfalls besser in das erste Kapitel gepasst. Doch während man mit der unklaren und oft nicht ganz nachvollziehbaren Zuordnung noch gut leben könnte – ist sie doch ein Beleg für den interdisziplinären Charakter der Rhetorik – wiegt m.E. sehr viel schwerer, dass keine Versuche unternommen wurden, methodische Fundierungen von Rhetorik-affiner Forschung zu legen. Dies führt zu häufig nicht nachvollziehbarem Umgang mit Daten und zu wenig Methodenreflexion. Nur selten finden sich moderne Ansätze wie z.B. die Korpusanalyse in den Beiträgen wieder. Ein weiterer Mangel, der ein gravierender ist, besteht darin, dass – entgegen der Ankündigung „moderner Rhetorikforschung“ im Titel – das Forschungsfeld der linguistischen Gesprächsrhetorik komplett ignoriert wurde. Dies ist umso bedauerlicher, als gerade in diesem Bereich nicht nur spannende Forschung betrieben wird (einen sehr guten Überblick liefert z.B. der Sammelband „Gesprächsrhetorik: Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozess“, der von Werner Kallmeyer 1996 herausgegeben wurde), sondern auch mit Bezügen auf die Analysekonzepte, die die Gesprächsanalyse entwickelt hat, für methodische und theoretische Stringenz gesorgt wird. Zudem zeigen Arbeiten aus diesem Feld generell, dass sich für die empirische Analyse von Alltagsgesprächen die Rhetorik nicht nur sehr gut nutzen lässt, sondern dass auch in diesem Bereich noch viel Forschungsbedarf besteht.

Ebenfalls etwas störend ist, dass es kein Kapitel gibt, das sich (kritisch) mit der rhetorischen Ratgeberliteratur, mit Rhetorik-Seminaren für Manager oder mit Rhetorikkursen an Volkshochschulen – mit anderen Worten mit ‚vermarkteter‘ Rhetorik – auseinandersetzt. Es wäre gut gewesen, beispielsweise empirisch zu überprüfen, welches Rhetorikverständnis hinter unterschiedlichen Angeboten steht und, vor allem, welche Wirkung die Kurse haben und ob bzw. wie sie das rhetorische Verhalten zu ändern in der Lage sind. Hier wird ein weiterer aktueller und vor allem wirtschaftlich und gesellschaftlich bedeutender Teil der Rhetorik ignoriert.  

Es bleibt schließlich ein sehr gemischtes Bild eines Sammelbandes mit einigen sehr guten und auch innovativen Beiträgen, aber mit ‚blinden Flecken‘ in Bezug auf wichtige Anwendungsbereiche der Rhetorik und mit einem verschenkten Potential, methodische und theoretische Fundierungen zu legen. Größtenteils versammelt der Band eher traditionell ausgerichtete Arbeiten. Um einen Überblick zur aktuellen Forschung zu den im Sammelband beachteten Bereichen der Rhetorik zu bekommen, ist der Band geeignet, um eine Gesamtschau über aktuelle Rhetorikforschung zu erhalten, eher nicht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Gert Ueding / Gregor Kalivoda: Wege moderner Rhetorikforschung: Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung.
De Gruyter, Berlin 2013.
865 Seiten, 119,00 EUR.
ISBN-13: 9783110309287

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch