Vom Sinn des Unsinns
Zu Horst Brunners Auswahlausgabe deutscher Unsinnsdichtung aus Mittelalter und Früher Neuzeit
Von Christoph Schanze
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas von Horst Brunner herausgegebene Reclam-Bändchen mit dem hübschen, Neugier weckenden Titel „Von achtzehn Wachteln und dem Finkenritter“ macht erstmals die frühen Zeugen einer Textsorte bequem zugänglich, deren Wurzeln man auf den ersten Blick eher nicht im Mittelalter und der Frühen Neuzeit verorten würde: die (deutsche) Nonsense- bzw. Unsinnsdichtung, die durch Autoren wie Morgenstern, Ringelnatz, Erhart, Loriot u. a. im 20. Jahrhundert eine „Blütezeit“ erlebte (so Brunner im Vorwort). Der bekannteste Vertreter dieser Textsorte dürfte neben den Schildbürgern wohl Gottfried August Bürgers Buch über den Lügenbaron Münchhausen sein, der wesentlichen Anteil daran hat, dass Texte wie diese in der älteren Forschung die etwas unglückliche Bezeichnung ‚Lügendichtung‘ erhalten haben.
Die Textauswahl bietet einen Querschnitt durch die Frühphase der deutschsprachigen Unsinnsdichtung, der – soweit möglich chronologisch geordnet – vom 13. bis ins 16. Jahrhundert reicht. Verschiedene „literarische Typen“ sind vertreten:
1. Sangsprüche und Lieder sind die frühesten, aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammenden Texte: Strophen Reinmars von Zweter und vom Marner (Nr. I–III), eine in der Überlieferung fälschlicherweise Reinmar dem Alten zugeschriebene politische Satire in Sangspruch-Form (Nr. IV), Hofkritik in einem Lied Michel Beheims aus dem 15. Jahrhundert (Nr. X) und purer Nonsense über einen verdrehten Bauern in einem Lied von Hans Sachs aus dem 16. Jahrhundert (Nr. XI). In der Gattung der Sangspruchdichtung kommen rein unterhaltende Texte wie die ersten drei äußerst selten vor.
2. Größeren Umfang weisen Reimpaarsprüche oder kleinepische Texte wie das um 1300 entstandene titelgebende Wachtelmäre (Nr. VIII), eine Unsinnspredigt aus dem 14. Jahrhundert (Nr. VI), Hans Sachs’ Beschreibung des Schlaraffenlandes (Nr. XII, um 1530) und die quasi programmatische ‚Berufsbeschreibung‘ eines notorischen Lügners aus dem 13. Jahrhundert (Nr. V) auf. Die Texte sind – mit Ausnahme der Sachs’schen Schlaraffenland-Schilderung und eines Reimpaargedichts von Hans Kugler (Nr. IX) – anonym überliefert, wie es bei Kleinepik oftmals der Fall ist.
3. Den gewichtigsten Bestandteil bildet das letzte der insgesamt drei Prosastücke aus dem 16. Jahrhundert (Nr. XIII–XV): der Finkenritter, ein anonym veröffentlichter Kurzroman, der ein „Glanzstück der altdeutschen Unsinnsdichtung“ und als „Parodie eines Reiseberichts und Ritterromans“ ein „ebenbürtige[r] Vorgänger“ des Lügenbarons Münchhausen ist.
Abgedruckt ist jeweils der mittelhochdeutsche bzw. frühneuhochdeutsche Originaltext mit einer neuhochdeutschen Übersetzung auf der gegenüberliegenden Seite. Dem Finkenritter sowie Hans Sachs’ Schlauraffenland sind zudem die Holzschnitte der Druckausgaben beigegeben (Sachs: Nürnberger Flugblatt um 1530 mit einem Holzschnitt von Erhard Schön; Finkenritter: Straßburger Druck um 1560). Der Textabdruck lässt editorische Fragen offen: Im Kommentarteil werden zwar verschiedentlich textkritische Fragen angesprochen, allerdings finden sich nirgends weitergehende Hinweise zu den Editionsgrundsätzen (reine Transkription? Normalisierung? Interpunktion?).
Die Übersetzungen sind durchweg gelungen und lesen sich spritzig, auch, weil sie derbe Formulierungen, die für die Texte durchaus charakteristisch sind, nicht scheuen. Für die späteren, frühneuhochdeutschen Texte wäre eine Übersetzung aber nicht unbedingt nötig gewesen; einige Wortangaben und Erläuterungen hätten ausgereicht, um auch Lesern, die mit vormodernen Texten weniger vertraut sind, das Textverständnis zu ermöglichen, und zugleich dazu eingeladen, sich etwas intensiver mit dem originalen Wortlaut zu beschäftigen. Dass eine Übersetzung oftmals überflüssig ist, zeigt etwa die erste Strophe des Liedes von Hans Sachs (Nr. XI). Die Übersetzung ist hier größtenteils eine Umsetzung des frühneuhochdeutschen Textes, was zur Folge hat, dass sie anfangs wie ihre Vorlage reimt, diese Form aber nicht beibehalten kann:
Ein dorf in einem pauren sas,
der geren milch und loffel as,
mit einem grosen wecke.
vier wegen spant er an ein pfert,
sein küch stant miten in dem hert
vier haus so het sein ecke.
wol umb sein zaun so ging ein hof,
aus kes macht er vil milich,
in das prot schos er sein packof,
von gippen war sein zwillich.
miten in seinem offen stand sein stueben,
felt grueb er aus den rueben,
vol stadel lag sein hay,
aß zwey pad auf ein ay.
Ein Dorf in einem Bauern saß,
der gerne Milch und Löffel aß
mit einem großen Wecken.
Vier Wägen spannte er an ein Pferd,
seine Küche stand mitten im Herd,
vier Häuser hatte seine Ecke.
Grad um seinen Zaun ging ein Hof,
aus Käse machte er viel Milch,
ins Brot schoss er seinen Backofen,
aus Joppen war sein Zwillich.
Mitten in seinem Ofen stand seine Stube,
Felder grub er aus den Rüben,
voller Scheunen lag sein Heu,
er aß zwei Bäder auf ein Ei.
Der Kommentarteil bietet zu jedem der Texte Informationen zu Überlieferung, Form und ggfs. vorliegenden Ausgaben, knappe textkritische Anmerkungen sowie – in erster Linie bei mehrfach überlieferten Texten – Lesarten (Nr. II, VI, VII, VIII, XIII). Etwas mehr Raum nehmen inhaltliche Erläuterungen ein: die Erklärung schwer verständlicher Begriffe, die Erörterung sonstiger Fragen und Probleme, die die Texte aufwerfen, sowie der Versuch, die Texte zu verorten und wenigstens ansatzweise nach Deutungsmöglichkeiten zu suchen. Die Frage nach einem tieferen ‚Sinn‘ wird aber in den allermeisten Fällen verneint: Es geht den Texten in der Regel um die pure Lust am Unsinn und gerade um die offensichtliche Sinnfreiheit; sie dienen primär der Unterhaltung.
Dennoch ist man – nicht nur als Literaturwissenschaftler – doch immer wieder versucht, diesem ‚Unsinn‘ Sinn abzugewinnen, was aber nur in den wenigstens Fällen gelingt, und wenn, dann auch nur rudimentär. Letztlich ist das freilich Ermessenssache, wie das Beispiel der Marner-Strophe verdeutlichen kann (Nr. III):
Maniger saget mêre
von Rôme, diu er nie gesach.
alsô wil ouch ich iuch ein mêre sagen:
ein snegge vür einen lehpart wol tûsent klafter lang sprang.
daz mer stât wassers laere –
von einer tûben daz beschach,
diu trank es ûs, daz hôrt ich zwêne vische klagen:
diu vlugen dâ her von Nîfen unde sungen niuwen sang.
ein hase zweine winde vieng, dô si in solten jagen.
dô sach ich starker wolve viere,
die hat ein altes schâf erslagen.
dô sach ich einen reiger eines habches gern
und vieng in in den lürten schiere.
dô sah ich einen wîssen bern,
den vieng ein wilder esel an des meres grunt,
des half im ein salamander, dem wâren diu wasser kunt.
Mancher erzählt Sachen über Rom, die er nie gesehen hat. Ebenso will auch ich was erzählen: eine Schnecke sprang tausend Klafter weiter als ein Leopard. Das Meer ist ohne Wasser – eine Taube ist schuld, die trank es aus, hörte ich zwei Fische klagen: die kamen daher geflogen aus Neifen und sangen neue Lieder. Ein Hase fing zwei Windhunde, als sie ihn jagen sollten. Darauf sah ich vier starke Wölfe, die ein altes Schaf erschlagen hatte. Dann sah ich einen Reiher, der einen Habicht fassen wollte und ihn sogleich in der Luft fing. Anschließend sah ich einen weißen Bären, den fing ein wilder Esel auf dem Meeresgrund, dabei half ein Salamander, der sich in den Gewässern auskannte.
Anders als Brunner im Kommentar vermerkt („Die etwas unpointiert wirkende Strophe reiht unmögliche Handlungen aus der Tierwelt ohne erkennbare tiefere Absicht“), könnte man hier wohl doch eine didaktische Intention des Textes vermuten, die sich durch die beiden einleitenden Verse erschließen lässt. Ein typisches Motiv der Unsinnsdichtung – die verkehrte Welt, hier in Form von „unmögliche[n] Handlungen aus der Tierwelt“ – würde aus dieser Sicht dazu dienen, Kritik zu üben an denjenigen, die ohne entsprechendes Wissen, vielleicht nur dem Hörensagen nach und damit substanzlos, aber polemisch Kritik an Rom, also Kirchenkritik üben. Die folgenden Unsinns-Äußerungen des Sprechers zeigen dann, wie ‚unsinnig‘ solch ein Verhalten ist, wobei der Zusammenhang von These (Romkritik ohne Substanz) und Negativexempel (Unsinn der verdrehten Tierwelt) explizit offengelegt wird: alsô wil ouch ich iuch ein mêre sagen (V. 3). Allerdings wird diese mögliche Aussageintention der Strophe von den sich gleichsam verselbstständigenden Unsinns-Beispielen förmlich überwuchert, so dass vielleicht doch wieder die bloße Freude an eben diesem ‚Unsinn‘ überwiegt.
Bei der bereits erwähnten Reinmar dem Alten zugeschriebenen Strophe (Nr. IV) ist die politische Satire als Zweck und damit ein relativ eindeutiger ‚Sinn‘ der Strophe besser erkennbar. Auch hier dient das Motiv der verkehrten Welt dazu, das eröffnende Statement zu illustrieren, eine Klage „über das Zerwürfnis von Papst und Kaiser (man denkt an Friedrich II.)“: Blatte unde krône wellent muotwillig sîn (V. 1) – „Geistliche und weltliche Herrschaft wollen ihren je eigenen Vorstellungen folgen“, so wie spielende Kinder meinen, Vernünftiges zu tun, es töricht ist, den Eber mit einem Hasen zu jagen usw.
Ein gewisser Sinn lässt sich auch dem Finkenritter nicht absprechen. Darauf weist schon das im Vergleich zu den anderen Texten wesentlich sorgfältigere narrative Arrangement mit einer Erzählerfigur hin, durch das „der erzählte Unsinn in mancher Hinsicht, ob gewollt oder nicht, zu tieferer Bedeutung [gelangt]“. Der Finkenritter ist zwar ohne Zweifel ein ‚komischer‘, zum Lachen einladender Text – gerade wegen der vielfältigen Versatzstücke aus der Tradition der Unsinnsdichtung, die durch eine Art Rahmenhandlung zusammengehalten werden –, aber „das fortwährende Scheitern des Ich-Erzählers in der dargestellten Verkehrten Welt ist nicht nur lustig, sondern auch erschreckend; zugleich wird durch die Art der Darstellung, exemplarisch für viele Erzählungen dieser Art, eine angebliche Erfolgsgeschichte als bloße Aufschneiderei entlarvt“.
Im Nachwort des Bandes versucht Brunner in umsichtiger Weise, die Konturen der Textsorte Unsinnsdichtung zu umreißen, was bestens gelingt. Neben einer Begriffsdefinition und dem Verweis auf das „Vergnügen der Hörer und Leser“ als Hauptzweck dieser Art von Texten zeigt er verschiedene Motive auf, die immer wieder begegnen und letztlich alle mehr oder weniger das Schema der ‚verkehrten Welt‘ bedienen. Als wichtigste nennt er die Überlegenheit Schwacher über Starke, v. a. in der Tierwelt, Gestalten oder Dinge aus unpassenden Materialien, Leistungen oder Handlungen jenseits möglicher Realitätserfahrungen sowie sprachliche Spielereien. Ein teils mit weiteren Deutungsansätzen angereicherter Abriss der verschiedenen Gattungen, aus denen die ausgewählten Texte stammen, rundet den Überblick ab.
Brunner beendet das Nachwort folgendermaßen: „Auch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gab es Menschen, die gern und entspannt gelacht haben, weder dachten sie unausgesetzt an das Jenseits, noch an den Sinn ihrer ständischen Existenz, noch an Rebellion und Aufrührertum. Die Texte, die ihnen gefallen haben, können durchaus auch uns heute noch erfreuen“. Dem ist entschieden beizupflichten: Horst Brunner hat uns mit einem sehr vergnüglichen Büchlein beschenkt, dem zu wünschen ist, dass es auch über Fachkreise hinaus sein Publikum finden wird.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg