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Über Herfried Münklers Studie „Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918“

Von Carsten KretschmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carsten Kretschmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, so hat der amerikanische Diplomat George F. Kennan den Ersten Weltkrieg einmal genannt. Im Dienste der US-Regierung war Kennan in den dreißiger, vierziger Jahren unter anderem in Berlin und Moskau auf Posten, wo er den fatalen Siegeszug der totalitären Regime aus nächster Nähe verfolgte. Und wohin Kennan inmitten seiner Epoche, die an Krisen und Konflikten nicht eben arm war, auch blickte – dass es der Erste Weltkrieg gewesen sei, von dem das ganze Schreckliche seinen Ausgang genommen habe, daran bestand für Kennan nicht der leiseste Zweifel. Und wer wollte ihm da widersprechen?

Wer in den vergangenen Wochen und Monaten Zeitungen und Zeitschriften zur Hand nimmt, historische Reportagen im Fernsehen verfolgt oder die Neuerscheinungen in der Bahnhofsbuchhandlung betrachtet, der kann dem Ersten Weltkrieg nicht entgehen. Das war nicht immer so. Anders als in Großbritannien oder Frankreich, wo der Erste Weltkrieg immer schon einen vorderen Rang auf der Agenda der Erinnerungspolitik behauptete, stand er in Deutschland stets im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Von Paris und London aus betrachtet war der Erste stets der „Große Krieg“, the Great War, la Grande Guerre, und der Tag des Waffenstillstands 1918 wird in Frankreich wie  Großbritannien noch heute feierlich begangen.

In Deutschland geriet der Erste Weltkrieg zwar nicht in Vergessenheit. Die Öffentlichkeit nahm aber im Grunde genommen nur dann Notiz von ihm, wenn es um Aspekte ging, die das Selbstverständnis der Deutschen, vor allem die prekäre Frage ihrer nationalen Identität, ganz grundsätzlich und unmittelbar betrafen. So beispielsweise bei der Fischer-Kontroverse, bei der es – ausgehend Fritz Fischers Thesen zu den diplomatischen Missgriffen in der Julikrise 1914 – in den 1960er- und 1970er-Jahren vorderhand um die Frage nach der Verantwortung des Deutschen Reichs für den Ausbruch des Krieges ging, tatsächlich aber um die moralische Dimension der deutschen Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insgesamt.

Diese moralische Dimension beschäftigt auch Herfried Münkler in seiner großen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg. Sie ist stets präsent, dominiert den Gang der Erzählung jedoch nicht. Denn Münkler, von Hause aus Politikwissenschaftler und einer der originellsten Denker der Gegenwart, möchte das Panorama, das er vom Krieg entwirft, nicht von vornherein zu eng anlegen. So geht es, zumal im Kapitel über die Julikrise, natürlich auch und besonders um die Frage von Verantwortung und Schuld, und Münkler beantwortet sie durchaus differenziert: Nicht die deutsche Haltung allein, sondern die unselige Politik der Blankoschecks auf allen Seiten, in Berlin ebenso wie in Paris und Moskau, hätten Europa in den Krieg gestürzt. Unabhängig davon interessiert sich Münkler jedoch vor allem für den eigentlichen Verlauf des Krieges, und zwar im denkbar weitesten Sinne, vom Scheitern des Schlieffen-Plans und dem völlig neuartigen Stellungskrieg im Westen über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg und die  Militärdiktatur der 3. OHL bis zum Waffenstillstand im November 1918. Dabei entfaltet Münkler ein eindrucksvolles Bild von allen relevanten Ebenen der Kriegführung. Sie reichen von den politischen Entscheidungen über Strategie, Waffentechnik und Rüstungswirtschaft bis hin zur operativen Taktik und zu Problemen des Nachschubs.

Insgesamt gelingt es Münkler, strukturelle Überlegungen, etwa zur geopolitischen Bedeutung der deutschen Mittellage, mit subjektiven Zeugnissen, Tagebuchnotizen und Briefauszügen so zu verbinden, dass die Totalität des Krieges anschaulich wird. Nicht ein eigenes Quellenstudium, sondern der kreative Blick auf die Positionen der Forschung und ihre stringente Verknüpfung ist es, die dieses Buch zur anregenden Lektüre macht.

Wenn sich Münkler schließlich der Frage zuwendet, welche Auswirkungen der Erste Weltkrieg auf die Gegenwart hat, ist er ganz in seinem Element als Politologe. Eine Wiederholung der Konstellation von 1914 hält er, mit Blick auf die deutsch-französische Freundschaft inmitten eines integrierten Europas, zwar für unmöglich. Im pazifischen Raum hingegen erscheint eine Konfrontation zwischen China und den USA nicht ausgeschlossen. Das kommunistische China befindet sich, so Münklers erhellender Gedankengang, in einer Situation, die der des wilhelminischen Deutschlands durchaus vergleichbar ist. Durch die chinesische Flottenpolitik sei langfristig eine Konstellation denkbar, die „ähnlichen Mustern folgt wie der deutsch-britische Gegensatz am Anfang des 20. Jahrhunderts“. So steht am Ende die Einsicht, dass die Welt von gestern zwar unwiederbringlich vorbei ist, die Versuchungen des Menschen aber keineswegs geringer geworden sind.

Titelbild

Herfried Münkler: Der große Krieg. Die Welt 1914 – 1918.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013.
924 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347207

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