Literaturgeschichte als Formgeschichte

Jürgen H. Petersen analysiert die poetischen Merkmale deutscher Erzähltexte

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literaturgeschichten beziehen sich oftmals auf eine Sprache, eine Nation oder Region, einen Zeitraum oder eine Gattung und werden von den Verfahren und Erkenntnissen beispielsweise der Kultur-, Geistes-, Sozial-, Medien- und Ideengeschichte beeinflusst. Jürgen H. Petersen ergänzt den thematischen Zugriff der Literaturgeschichte um die Formgeschichte. Seine als „Versuch“ bezeichnete Darstellung will „Dichtung wohl erstmals betont formgeschichtlich“ analysieren und dabei auf „manche literaturhistorische Konvention verzichten“. In seiner Geschichte plant er „alle Elemente“ zu untersuchen, „die einen poetischen Text als solchen erscheinen lassen, also um Bauformen und Darstellungsstrukturen, um sprachlich-stilistische Eigenheiten, um den Umgang mit dem Leser, die Organisation der Handlungsdetails, der Figurenkonstellationen, der Aussageabsichten und also um den Zusammenhang von poetischer Thematik und ästhetischer Textzurichtung“.

Wie setzt Petersen dieses Vorhaben um? Da keine formgeschichtlichen Modelle vorliegen, widmet er sich den Texten selbst und analysiert die Gestaltung zahlreicher deutscher Romane, aber auch Versepen und längeren Erzählungen, beginnend mit dem „Fortunatus“, der erstmals 1509 gedruckt wurde, und endend mit Felicitas Hoppes Roman „Hoppe“ von 2012. Nach einer kurzen Grundlegung zum Begriff der Formgeschichte unterteilt Petersen seine Darstellung in elf Kapitel, wobei er sich zunächst an den tradierten Epochen der Literaturgeschichtsschreibung orientiert. An die „Anfänge deutscher Erzählprosa“ schließen sich die „Arten des Barockromans“ an, denen die „Vernunftdarstellung und Gefühlsdarstellung in der Epik des 18. Jahrhunderts“ und „Die sogenannte Deutsche Klassik“ folgen. Weiter bezieht er sich auf die Romantik, den bürgerlichen Realismus und das Erzählen ohne Epochenbezug im 19. Jahrhundert, um daraufhin die Moderne zu untersuchen und mit dem postmodernen Erzählen seine Geschichte abzuschließen.

Petersen erzählt seine Formgeschichte bis zum Beginn der Moderne Ende des 19. Jahrhunderts chronologisch. Seine Kapitel beginnt er (wenn vorhanden) mit zeitgenössischen Aussagen zur Erzählkunst sowie einer Klärung und Problematisierung des jeweiligen Epochenbegriffes. Anschließend lässt er durch zahlreiche und umfangreiche Zitate die Texte selbst zu Wort kommen und beschreibt ihre formale Gestaltung. In seinen Analysen und durch seine Auswahl beeindruckt Petersen mit seiner erschöpfenden und umfangreichen Kenntnis der deutschen Literatur und ihrer Geschichte. Sein Unbehagen gegenüber den Epochenbezeichnungen bringt er immer wieder begründet zum Ausdruck. Allerdings unternimmt er es nicht, die formgeschichtlichen Spezifika der Zeiträume herauszustellen. Stattdessen verharrt er bei der additiven Reihung der Analysen der Erzähltexte. Zusammenfassungen oder eine Darbietung übergreifender Ergebnisse zu den Epochen fehlen.

Die weitgehend chronologische Erzählweise seiner Formgeschichte ändert Petersen mit dem Beginn der Moderne in einen stärker auf die formalen Elemente ausgerichteten Fokus. Er analysiert zunächst die „Klassiker der Moderne“, welche durch den „Verlust eines klaren und den Rezipienten eindeutig erkennbaren Erzählzusammenhangs“ und durch Multiperspektivität gekennzeichnet sind. Darauf beschreibt er zum einen Werke, die weiterhin den epischen Konventionen der „Vormoderne“ folgen und keine narrativen Innovationen vornehmen, und zum anderen Werke, die durch Experimente und Neuerungen den Sinn ihrer Texte verdunkeln, die Grenze des Verstehbaren überschreiten, Gegenwelten entwerfen, Fantastisches, Sinnloses oder Unsinniges erzählen.

Die Postmoderne skizziert Petersen als eine Nachmoderne, also als eine Epoche, die auf die Moderne folgt. Das Erzählen der Nachmoderne sei ab etwa 1980 durch ein Zurücktreten der epischen Inkohärenzen gekennzeichnet. Allerdings räumt er ein, dass nachmodernes Erzählen weiterhin durch moderne Prinzipien gekennzeichnet sein könne und man einen größeren zeitlichen Abstand und mehr Erzähltexte bräuchte, um die „Ausdruckselemente“ postmoderner Literatur „unbezweifelbar“ zu bestimmen.

Petersen macht in seinen Grundlegungen auf das Fehlen formgeschichtlicher Modelle und formanalytischer Exempel für sein Vorhaben aufmerksam. Seine Geschichte bietet zwei Verfahren der Darstellung einer formalen Literaturgeschichte an: 1. den chronologischen Durchgang durch die Geschichte der deutschen Erzählliteratur von 1500 bis etwa 1880 und 2. den thematischen, auf die Elemente des Erzählens bezogenen Zugriff für die moderne und nachmoderne Literatur. Welches Verfahren ist das passende für die Formgeschichte?

Die chronologische Beschreibung der Werke und ihrer formalen Bauelemente wirkt weniger überzeugend, weil additiv Werk auf Werk folgt, Redundanzen in der Darstellung nicht ausbleiben, formale Entwicklungen, Zusammenhänge, Besonderheiten und Abbrüche zu wenig in den Blick geraten und auch nicht durch Resümees hergestellt werden. Die Formgeschichte wird in ihrer Struktur noch sehr stark von den tradierten Epocheneinteilungen und Ergebnissen der Literaturwissenschaft geprägt, von denen sie sich aber unbeeinflusst zeigen wollte.

Stimmig und triftig erscheint die thematische Ausrichtung der Literaturgeschichte auf die formalen Bauelemente des Erzählens. Sie kommt für einen Zeitraum von über 100 Jahren fast ohne Epochenbezeichnungen oder Benennungen von literarischen Strömungen aus und konzentriert sich voll und ganz auf die Analyse der Formen. Petersen gelingt hier eine beispielgebende Darstellung, an der sich zukünftige Literaturwissenschaftler orientieren können. Damit erreicht Petersen sein selbstgestecktes Ziel, einen „nachdrücklichen Anstoß“ für weitere „formanalytische Literaturanalysen“ geben zu wollen. Die Literaturwissenschaft wird insbesondere durch die Kapitel zur Moderne angeregt, die noch ausstehenden formgeschichtlichen und formanalytischen Modelle zu entwickeln.

Titelbild

Jürgen H. Petersen: Formgeschichte der deutschen Erzählkunst. Von 1500 bis zur Gegenwart.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014.
455 Seiten, 59,80 EUR.
ISBN-13: 9783503155255

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch