Unterwegs im Namen des Herrn
In seinem historischen Tagebuch schildert der deutsche Missionar Johannes Spiecker eine Reise durch Deutsch-Südwestafrika
Von Jens Zwernemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls der niederländische Performancekünstler Dries Verhoeven im Rahmen seiner „Ceci n’est pas …“-Reihe unlängst in Hamburg ein Tableau Vivant präsentierte, in dem sich ein junger, augenscheinlich aus Afrika stammender Mann in einem Glaskäfig zum Kinderlied „Zehn kleine Negerlein“ akrobatisch verrenkte, machte der Künstler damit auf ein Kapitel der deutschen Geschichte aufmerksam, das im kollektiven Gedächtnis kaum noch präsent sein dürfte – die deutsche Kolonialgeschichte. Dabei manifestierten sich die deutschen Bemühungen, den viel begehrten „Platz an der Sonne“ zu ergattern, nicht nur darin, dass man mitten in China Bier nach deutschem Reinheitsgebot brauen oder in Afrika Städte errichten ließen, die stark an Rothenburg ob der Tauber erinnern, sondern auch in der blutigen Niederschlagung des Aufstands der Herero und der Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika. Mitten in der Zeit dieses zwischen 1904 und 1908 andauernden Konflikts führte Johannes Spiecker, ein deutscher Missionar der Rheinischen Missionsgesellschaft, eine Inspektionsreise durch das sogenannte deutsche „Schutzgebiet“ und die britische Kapprovinz durch. Das dabei von ihm geführte Reisetagebuch wurde nun von Lisa Kopelmann und Martin Siefkes, dem Urenkel des Verfassers, herausgegeben.
Neben dem eigentlichen Tagebuch bietet der Band eine Kurzbiografie Spieckers sowie die Magisterarbeit Siefkes, die als Einführung fungiert. Hierin setzt sich der Verfasser durchaus kritisch mit der Rolle seines Vorfahren, den er als „relativ liberale[n] Vertreter der protestantischen Mission“ sieht, ebenso wie mit der Rolle der Mission beziehungsweise der Kirche im Kontext von Kolonialismus und Imperialismus auseinander. Anhand der Tagebuchaufzeichnungen nimmt er Themen wie „Sexuelle Gewalt“ gegen die eingeborenen Frauen, „Zwangsarbeit“ insbesondere beim Eisenbahnbau und die nach dem Aufstand eingerichteten „Konzentrationslager“ in den Blick und stellt dabei die bei aller Liberalität häufig ambivalente Haltung Spieckers gegenüber der (vermeintlich) angemessenen Behandlung der Eingeborenen aber auch gegenüber den Mechanismen zur Machtsicherung der Mission heraus. Dabei bietet diese Analyse ausgewählter Aspekte und Passagen den Vorzug, den fast jede Betrachtung gegenüber der Lektüre des zugrundeliegenden Textes bietet: eine explizite Fokussierung. Der eigentliche Tagebuchtext hingegen – und das liegt fraglos in der Natur der Sache – mag mit seinen langen (und zuweilen auch langatmigen) Schilderungen des oftmals schlechten Gesundheitszustandes Spieckers, von Tagesabläufen und Gesprächen mit Gesprächspartnern, deren Amt und Funktion dem Leser häufig unklar bleiben, selbst für eine geneigte Leserschaft gelegentlich etwas ermüdend wirken. Wobei sich hier die Frage stellen mag, wer eigentlich die erhoffte Leserschaft ist – eine Frage, die zum kürzesten Teil des Bandes führt – zum Vorwort.
Vorangestellt hat der Simon Verlag für Bibliothekswissen Spieckers Tagebuch ein nur knapp zweiseitiges Vorwort, das es aber dennoch verdient, genauer betrachtet zu werden, enthält es doch neben Ausführungen zu editorischen Entscheidungen auch eine klar missionarische Komponente. Letztere wird durch eine hagiografische Überhöhung Johannes Spieckers eingeleitet, die durch die sich anschließenden Anführungen Siefkes deutlich relativiert, wenn nicht sogar konterkariert wird; für all seine Handlungen wird Spiecker quasi ein moralischer Ablassbrief ausgestellt, seien sie doch alle aus einem „Geist der Mitmenschlichkeit und Liebe getroffen“ worden, der die Frage, ob eine Entscheidung nicht vielleicht doch auch falsch gewesen sein könnte, offenbar völlig obsolet macht.
Spiecker, der laut Vorwort „ein großes Vorbild war und heute noch ist“, wird in seinem Glauben und Gottvertrauen als Idealbild eines Menschen dargestellt, der dadurch alle Unbill des Lebens „ruhig und in allumfassender Liebe, manchmal mit Humor“ meisterte – eine Charakterisierung, aus der dann gar eine therapeutische Wirkung der Lektüre für einen potentiellen Leserkreis abgleitet wird: „Wir sind uns sicher, dass dieses Tagebuch nicht nur in Kreisen der Kirche und Mission Anklang finden wird, sondern auch in einer Zeit und unter Menschen, die zunehmend von psychologischen Problemen und Burnout bedroht, mitunter nicht wissen, warum ihr Leben so aus den Fugen gerät.“ Davon auszugehen, dass das Tagebuch eines Missionars als Burnout-Prävention und als Lebensleitfaden fungieren könnte, erfordert sicherlich sehr viel Gottvertrauen.
Mag man zu diesem missionarischen Impetus stehen wie man will, so dürften die editorischen Entscheidungen auf jeden Fall befremden: Das „authentische Tagebuch“ wird in einer Textgestalt präsentiert, für die das Original „mehrfachen Kürzungen“ unterworfen wurde – ein Umstand, der bei einer Manuskriptlänge von fast 2.000 Seiten mehr als nachvollziehbar ist; was und an welchen Stellen gekürzt wurde, bleibt allerdings undokumentiert. Vorgenommen habe man diese Kürzungen, um „die Botschaft dieses Buches noch klarer zu vermitteln“. Worin genau, so mag man sich hier fragen, kann die „Botschaft“ eines Tagebuches bestehen, das, wie anschließend ausführt wird, „als Rechenschaftsbericht und nicht als Publikation gedacht war“? Und: Wie kann es bei einem Text nur die eine Botschaft geben, die hier offenbar durch die Herausgeber der Leserschaft noch verdeutlich werden musste?
Unweigerlich fühlt man sich an Goethes Diktum zum munteren „Auslegen“ von Texten erinnert. In dem Bestreben, die „gewünschte[] Unmittelbarkeit dieser Erzählung [sic]“ aufrecht zu erhalten, wurde auch die Orthografie „sparsam und nur dann verändert, wenn es dem Verständnis diente“. Inwiefern die Schreibweise „dass“ wirklich leichter verständlich ist als „daß“, wird wohl jeder Leser für sich selbst entscheiden müssen, zumindest aber führen die nicht konsequent durchgeführten orthografischen Veränderungen dazu, dass Siefkes Einführung in einer Mischorthografie erscheint, die dem Verständnis nicht unbedingt förderlich ist. Da auch hier – im Bestreben den Text leichter lesbar zu machen – „auf Fußnoten verzichtet“ wurde, gibt man den Lesern allerdings keine Chance, zu erfahren, an welchen Stellen und bis zu welchem Grad die originale Textgestaltung verändert wurde.
Somit möchte man Spieckers Tagebuch eine interessierte Leserschaft wünschen, die den durchaus lesenswerten Ausführungen des Missionars eine (hoffentlich eigene) Botschaft zu entnehmen vermag; um dem „Tagebuch […] als Zeitdokument seinen Wert“ geben zu können, wie es sich Siefkes in seiner Einführung erhofft, wäre aber wohl eine andere editorische Herangehensweise vonnöten gewesen.