Eine haarige Saubande
Der 1870 erschienene, erste Roman in finnischer Sprache, Aleksis Kivis „Sieben Brüder“ liegt in neuer Übersetzung vor
Von Regina Roßbach
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Hat dich der Teufel geritten, Junge?“, ist Juhanis Reaktion, als sein Bruder Lauri ihm und ihren übrigen fünf Brüdern seinen Plan für die Zukunft eröffnet: „An dem Berg bauen wir ein lustiges Häuschen auf einer lustigen, der Sonne zugewandten Brache, und da jagen wir das Getier der Wälder und leben friedlich weitab vom Lärm der Welt und den zänkischen Menschen.“
Nach anfänglichem Spott („Und sollen wir vielleicht auch noch Füchse und Wölfe fressen in den Höhlen des Impiwaara, wie die haarigen Bergtrolle?“) erwärmen sich die „Sieben Brüder“ im gleichnamigen Roman von Aleksis Kivi doch für die Idee. Es folgt die Geschichte einer Truppe sympathischer Zivilisationsverweigerer, einer echten „Saubande“, die sich in die Wälder schlagen, um dort ein schönes Leben zu beginnen. Sie lassen sich keinen Bärenbraten oder schäumenden Bierkübel entgehen, gröhlen Lieder oder erzählen sich sagenhafte Geschichten von Bergriesen und untoten Jungfrauen, „und dann wieder schliefen sie süß mit dem Kopf auf einem Grasbüschel, und von ihrem Schnarchen dröhnte die hallende Brache.“
Kommt dieser Roman auf den ersten Blick wie eine lustige Volkssage daher, dramaturgisch dazu recht unbeholfen und zuweilen mit erheblichen Längen, so kann seine Bedeutung für die Literaturgeschichte Finnlands gar nicht stark genug betont werden, wie aus dem kenntnisreichen Nachwort des Übersetzers Gisbert Jänicke hervorgeht. Zu Kivis Zeit war die Schriftsprache fast ausschließlich das auch an Schulen und Universitäten als offizielle Amtssprache unterrichtete Schwedisch. Finnisch sprach vor allem die bäuerliche Landbevölkerung, die zwar zum Lesenlernen verpflichtet war, um etwa am Abendmahl teilnehmen zu dürfen, kaum aber des Schreibens mächtig war. Auf Finnisch waren deshalb nur Druckerzeugnisse wie Fibeln oder religiöse Gebrauchsbücher erhältlich.
Erst als Finnland ab 1809 nicht mehr zum Schwedischen Reich gehörte, sondern als autonomes Großfürstentum dem russischen Zaren unterstellt war, konnte man mit der Förderung eines spezifisch finnischen Kulturbewusstseins beginnen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Gründung der Finnischen Literaturgesellschaft, die ab 1831 Übersetzer und Schriftsteller zur Literaturproduktion in finnischer Sprache ermutigte. Aleksis Kivi gewann mehrmals von der Gesellschaft ausgeschriebene Wettbewerbe für Dramentexte, was der chronologisch verschuldete Sohn einer Schneiders als Finanzspritze wie Motivationshilfe auch dringend brauchte. 1869 entschied die Gesellschaft, auch die Herausgabe der „Sieben Brüder“ zu fördern. Zu diesem Zeitpunkt war Kivi wegen immer schlechterer finanzieller Lage schon kurz davor, vom Schreiben Abstand zu nehmen.
Eine berufliche Neuorientierung gelang ihm nicht. Nach zunehmender Verschlechterung seines Gemütszustandes und Alkoholproblemen wurde er in eine Psychiatrische Klinik eingewiesen, wo er neun Monate blieb. Kurz nach seiner Entlassung starb er 1872 unter ungeklärten Umständen. War die Zeit in Finnland noch nicht reif für einen freien Berufsschriftsteller?
Gisbert Jänicke gibt noch einen weiteren Hinweis, warum Kivis seelische Verfassung sich schlagartig verändert haben könnte. Es ist der gnadenlose Verriss seines Romans durch August Ahlqvist, Professor für finnische Sprache und Literatur, der noch vor der letzten Fortsetzungsfolge erschien und die Finnische Literaturgesellschaft mit der Herausgabe in Buchform so lange zögern ließ, dass Kivi sie selbst schon nicht mehr erleben sollte. Ahlqvist schimpft in seiner Rezension über den „lächerlichen und kindischen Inhalt“ der „Sieben Brüder“, seine Sprache, „die man nicht einmal in einer Kneipe unter Fuhrknechten tolerieren würde“ und sagt voraus, dass die wenigen Leser, die es finden werde, „das Buch mit Ekel von sich werfen werden“.
Die empörte Reaktion lässt sich nur teilweise mit den Skandalen in Frankreich vergleichen, in denen man seiner Ablehnung gegen die neuen Bewegungen des Balzac‘schen Realismus oder eines Naturalismus bei Zola Luft verschaffte. Vielmehr handelt es sich bei Kivi um einen Roman, der mit keiner bekannten Tradition brechen konnte, sondern eine eigene finnische Literatur überhaupt erst begründen musste. Der Wissenschaftler Ahlqvist hätte sich eine anspruchsvolle, an den Vorbildern der Weltliteratur geschulte und distinguierte Kunst gewünscht. Aber wäre das eine Kunst gewesen, die der finnischen Sprache und Kultur hätte gerecht werden können?
Tatsächlich ist Kivis Roman für seine Zeit so finnisch, wie er nur finnisch hätte sein können. Er schöpft aus dem kulturellen Bestand der finnischsprachigen Bevölkerung, ihren Sagen und Legenden, ihrer Mischung aus christlicher und abergläubischer Metaphorik. Seine Sprache ist – mehr noch als bei den französischen Naturalisten – die Sprache der kleinen Leute. Hier wird geflucht, geschimpft und palavert, wie der Schnabel gewachsen ist: Die Dialoge sind enorm witzig. Der Roman handelt vom Lesenlernen – dem die Brüder übrigens durch eine Flucht aus dem Fenster zunächst entgehen –, von brennenden Saunas, vom Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Liebe zur Natur. Und er handelt von dem Konflikt eines Volkes, das bisher wenig anderes kennt als das friedliche Dorfleben, mit gänzlich neuen Erwartungen in Sachen Produktivität und Bildung. Es ist der liebevolle Versuch Kivis, eine Literatur zu schaffen, die seinem eigenen Volk gerecht wird. Und das lässt die bis heute große Verehrung der Finnen für diesen Autor verständlich werden.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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