Verstörend schön

Florjan Lipuš erzählt in „Boštjans Flug“ von einer versunkenen und doch nicht fremden Welt

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Sielach in Unterkärnten, das in seiner slowenischen Sprache Sele heißt, lebt der mittlerweile 77-jährige Florjan Lipuš. Er hat Romane, Prosa, Essays und szenische Texte publiziert und ist den deutschsprachigen Lesern bekannt, seit sein auf Deutsch schreibender Landsmann Peter Handke, zusammen mit Helga Mračnikar, 1981 den Roman „Der Zögling Tjaž“ übersetzt und in seinem Hausverlag Suhrkamp veröffentlicht hat. 2003 erschien der Roman „Boštjanov let“, und wenn man Florjan Lipuš glauben darf, ist es definitiv sein letzter. Kann man solchen Aussagen wirklich trauen?

Wie auch immer: Zwei Jahre später kam das Werk, trotz gelegentlicher Überbetonung sprachlicher Preziosen wahrlich meisterhaft übertragen von Johann Strutz, bei Wieser in Klagenfurt heraus. Nun liegt es, in gewohnt solider und schöner Aufmachung, als Band 1470 der „Bibliothek Suhrkamp“ vor. Es überrascht nicht, dass das fünf Seiten umfassende Nachwort zu „Boštjans Flug“ von Peter Handke stammt, für den dieses „Buch des großen beständigen Aufruhrs“ zugleich, und zwar erstmals bei Florjan Lipuš, ein „Buch der Liebe“ ist, eines, das man liest als „das erste Buch der Liebe seit (fast) unvordenklichen Zeiten“. Oder zumindest seit Adalbert Stifter. Oder seit „Dshamilija“ von Tschingis Aitmatov. Und außerdem und vielleicht zu allererst ist es ein Buch, das von einem im Dunkel der Geschichte versunkenen und doch nicht völlig fremden dörflichen Slowenien erzählt und von einem die Menschen durch und durch prägenden und knechtenden Katholizismus. Wenn das, wovon Florjan Lipuš da erzählt, wirklich Christentum heißen durfte, dann wundern einen die grausamsten Schrecknisse und verheerendsten Katastrophen des 20. Jahrhunderts kaum noch.

Das ist eine Religion“, schreibt Peter Handke, „von der ich noch nie gelesen habe, jedenfalls nicht so“. Es ist auch eine Gesellschaft, von der man noch nie gelesen hat, jedenfalls nicht so. Ihre Zumutungen und Ungeheuerlichkeiten werden in einer dichten, poetisch-zauberischen, sirrenden und flirrenden, kaum jemals zuvor gehörten Literatursprache von allerhöchster Intensität erzählt. Florjan Lipuš ist ein genuiner Dichter, kein einem wie auch immer näher zu definierenden Realismus verpflichteter Romancier wie der große Drago Jančar aus Maribor. „Boštjans Flug“ ist ein Sprachkunstwerk, das konzentriert und aufmerksam gelesen werden will. Es gräbt sich tief hinein ins Innerste des Lesers, und wahrscheinlich vergisst man den Roman sein Leben lang nicht mehr.

Den jungen Boštjan, die zentrale Figur dieses nicht linear erzählten Textes, zieht es schon immer stark zu Lina hin, der Tochter des Mesners, und in der Sonntagsmesse darf er ihr ab und zu nahe sein. Doch beide leben in Tesen, einem tratschsüchtigen Bergdorf, „das alles und jeden kontrollierte, jede kindliche Albernheit eindämmte und das Heranwachsen verfolgte, das eifersüchtig darüber wachte, wer mit wem Kontakt und Umgang hatte, das sorgensüchtig immer und überall den Geruch der Sünde witterte, stets auf der Lauer nach einem Ärgernis, an dem es sich erhitzen konnte, oder um an irgendwem Anstoß zu nehmen“. Seine von unablässiger Arbeit und allumfassender Religiosität bestimmte, aber doch weithin sorgenfreie Kindheit endete mit einem furchtbaren, sein ganzes weiteres Leben prägenden Schicksalsschlag: Der Gendarm Ugav verhaftet die Mutter vom Backrohr weg, sie muss mitkommen und bleibt für immer verschwunden. Später erfährt der Leser: Sie wurde deportiert und in einem der Lager vergast. Und als die „Kriegswirren“ vorüber sind, ist im Elternhaus jegliches Licht erloschen – die Großmutter machte sich bald danach ans Sterben, und Boštjan mitsamt seinem kleinen Bruder musste dem überstrengen Vater folgen und hinunter ins Tal in ein Holzhaus ziehen, in dem er fortan, schweigsam geworden durch den übergroßen Schmerz, vor sich hin lebt und aufwächst, aber nicht mehr zu Hause ist. Lähmende „Ödnis“ macht sich nicht nur in seiner Seele breit, sondern auch in seiner Umwelt: „Alles zerfällt und verschwindet, den Krebsgang geht Boštjans Elternhaus, geht Bau um Bau“. Nur die Wegkreuze und die Kirchtürme strecken sich noch höhnisch aus dem allgemeinen Dickicht. Matilda geht um, „die Tödin“, und „alles Lebendige weicht von hier“. Möglichst schnell sollen den Kindern ihre „Flausen“ ausgetrieben und die Jahre bis zum Erwachsensein übersprungen werden: „In diesem Haus gibt es kein Spielzeug, der Vater duldet es nicht, weil es von der Arbeit ablenkt und den Menschen verdirbt“. Boštjan ist zwar durchaus trotzig und rebellisch und verrichtet die ihm aufgetragene Arbeit widerwillig und lustlos – doch Alternativen gibt es nicht. Höchstens Lina, jedenfalls die vage Möglichkeit, seine unstillbare Liebe zu ihr irgendwann einmal zu leben. „Zuletzt ging er nur noch wegen Lina nach St. Marjeta […]. Lina war die Frohbotschaft und die Verkündigung, die Vorhersage, durch die er sich mit sich selbst aussöhnte und ruhig wurde, die Mühen der Woche vergaß“. Die aus Irland in die slowenischen Berge geratene Heilige Marjeta hat, so sehr sich der kindlich-erwachsene Knabe auch darum bemüht, keinerlei Antworten auf Boštjans Not. Der Vater heiratet noch einmal, eine Frau braucht man schließlich im Haus – aber was für ein Eheleben ist das, in diesem Dorf, in jener Zeit? „Liebe galt nichts, Liebe kannte man nicht, für Liebe gab es kein Wort, auch jene zwischen Mann und Frau war nur eine Zuwaage und Sache des Zufalls, wenn das Glück es so wollte. Die Frau ertrug bis an ihr Lebensende die Launenhaftigkeit und den Starrsinn des Mannes, seine Grobheiten und Freiheiten, seine Rechthaberei, er nahm sie her, wenn ihm der Sinn danach stand, und sie beklagte sich nicht, auch wenn er auf ihr Holz spaltete. Sonntags sprach sie dann in der Kirche ein Gebet mehr und inniger, neigte den Kopf stärker zur Seite, preßte die Augenfester zusammen, einige Seufzer mehr entwanden sich ihrer Brust, und damit war es getan“. Wer möchte so leben, welt- und schicksalsergeben, trost- und ausweglos und ganz ohne Liebe? Für Boštjan jedenfalls wird es höchste Zeit, „aus der Reichweite der verkümmerten Seelen zu kommen“. Und am Ende schafft er das auch.

Man muss aus „Boštjans Flug“ so ausführlich zitieren, weil es einzig und allein die wundersam präzise, musikalische und zärtliche Poesie des Florjan Lipuš ist, die die Ausweg- und Trostlosigkeit der geschilderten Dorfwelt auf unheimlich-beklemmende Weise vor Augen führt, besser gesagt: sie eigentlich erst erschafft. Wobei über die magisch-mystischen Schilderungen der Natur, der bäuerlichen Arbeitswelt und vor allem der Seelen- und Gewissenspein der Menschen noch nicht viel gesagt ist. Doch auch so darf man resümierend behaupten: Dieser bedrückende und faszinierende Roman ist das lange gereifte Meisterwerk eines großen Dichters. Zugegeben: Der Leser muss ein Ohr für diesen Sprachsound haben, und es schadet gewiss nicht, wenn er für die Prosa eines Adalbert Stifter, Robert Walser, Franz Kafka, Bruno Schulz, Hermann Lenz oder eben Peter Handke seit je empfänglich ist. Wer an solchen Autoren geschulte Sprachantennen besitzt, der wird die allermeisten der im heutigen New York, London, Berlin oder Wien spielenden Zeitgeist-, Pop-, Erotik- und Business-Romane einfach links liegen lassen – und immer wieder nach „Boštjans Flug“ greifen.

Titelbild

Florjan Lipuš: Boštjans Flug.
Mit einem Nachwort von Peter Handke.
Übersetzt aus dem Slowenischen von Johann Sturtz.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
167 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518224700

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