Kurzweil mit Kurzgeschichten

Zu den Gesammelten Erzählungen von Peter Stamm

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kritik ist sich weitgehend darüber einig, was die Erzählungen von Peter Stamm vor vielen anderen auszeichnet: In einer Sprache, die immer mit den gleichen Attributen charakterisiert werden kann (schlicht, sachlich-nüchtern, schmucklos, schnörkellos), verweisen diese Erzählungen auf Problemfelder, die seit jeher die Menschen beschäftigt haben und die deshalb nach wie vor zugkräftige Themen sind: Wunsch- und Angstträume, flüchtige Begegnungen, unerfüllte Hoffnungen und vorhersehbare Beziehungskatastrophen. „An Reginas fünfundsiebzigstem Geburtstag kam die ganze Familie zusammen. Sie hatte alle in ein Restaurant eingeladen. Das Essen war gut, es war ein schönes Fest. Otmar und seine Freundin gingen als Erste nach Hause, Patrick ging kurz danach, und dann verabschiedeten sich auch Verena und ihr Mann.“ Wenige kurze Sätze (wie in diesem Fall aus der Geschichte „Der Besuch“) genügen, um Phänomene wie Kontaktarmut oder Einsamkeit messerscharf zu umreißen.

Wo von kleinen Lügen und von großen Geheimnissen die Rede ist, vom nicht-gelebten Leben, von Chancen, die versäumt worden sind oder auch am Ende doch noch ergriffen werden könnten – dort vermittelt Literatur indessen immer noch, was Sigmund Freud als „Verlockungsprämie“ bezeichnet hat. Der Schriftsteller setzt seine Leser in den Stand, die „eigenen Phantasien […] ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen“ (in: „Der Dichter und das Phantasieren“). Ein erfolgversprechendes Konzept.

Der vorliegende Band vereinigt die vier schon bekannten Sammlungen von Stamms Erzählungen „Blitzeis“, „In fremden Gärten“, „Wir fliegen“, „Seerücken“ mit etlichen Kurzgeschichten, die im Laufe der letzten zwanzig Jahre an anderen Stellen erschienen sind, und damit also, wie die Verlags-Ankündigung beteuert, „sämtliche Erzählungen von Peter Stamm, darunter einige bisher unbekannte“. Zwei Kurzgeschichten sind tatsächlich noch nie veröffentlicht worden: „Eine Geschichte ohne Bedeutung“ und „Ein Märchen“.  

Geschichten und Märchen – über deren Bedeutung trefflich gestritten werden kann, weil kein auktorialer Erzähler je die Zügel in die Hand nimmt –, alle diese Erzählungen eröffnen einen großen, letztlich aber doch (was durchaus für sie spricht) keineswegs grenzenlosen Spielraum, in dem Gewohnheiten wie Gewissheiten einer permanenten Prüfung ausgesetzt werden. Was bleibt, sind Andeutungen: Vielfach verdecken wohl – über belanglosen Gesprächen und sinnlosen Unterhaltungen – dicke Eisschollen, was alles zwischenmenschliche Beziehungen erleichtern oder sogar fördern würde; aber auch Eisberge können schmelzen. Geschichte wird von den Siegern geschrieben – Geschichten erzählen auch die Verlierer. Stamms Erzähler jedoch stehen von vornherein weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Sie befinden sich manchmal am äußersten Rand des Geschehens, manchmal auch mittendrin, sie reden von Verantwortung, von Schuld und Sühne, und nicht selten bleibt offen, wie weit sie selbst es versäumt haben, Verantwortung zu übernehmen. Die übrigen Figuren, die in diesen Erzählungen auftreten, wirken häufig bedrückt, kreuzunglücklich, verzweifelt. In jeder Erzählung ist also ein katastrophales Ende angelegt. Glücklicherweise (anders wäre die Lektüre auf die Dauer ermüdend) gibt es hin und wieder – allen Vorzeichen zum Trotz – dennoch ein Happy End – oder wenigstens einen Hinweis auf das komplexe Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion (wie am Schluss der Erzählung „Sweet Dreams“).

Wo immer diese Geschichten spielen, zwischen Lissabon und New York, seltener in der Schweiz, eines fällt auf: Sie sind kaum einmal an einem Arbeitsplatz angesiedelt. Fast scheint es, als hätten die Figuren ununterbrochen Ferien oder Freizeit, jedenfalls unendlich viel Zeit, darüber nachzugrübeln, was ihnen versagt geblieben ist, oder darüber zu sprechen, was sie vom Leben erwarten; zu tiefschürfenden Überlegungen und Unterredungen kommen sie dabei allerdings nie. Die Erzähler hingegen, keineswegs durchgehend Anverwandte, vielmehr (wie alle übrigen Figuren auch) aus den verschiedensten Ecken der Gesellschaft kommend, reden und erzählen alle in derselben Tonlage: schlicht, sachlich-nüchtern, schmucklos, schnörkellos. Als könnten sie alle, so wie ihr Autor, ohne weiteres aus dem Reservoir einer wortkargen Sprache schöpfen, die gleichwohl in vielen Passagen anschaulich zum Vorschein bringt, was den Figuren verborgen geblieben ist. Die Leser sehen mehr als die Figuren, womöglich auch hinein in die eigene Seelenlandschaft.

Titelbild

Peter Stamm: Der Lauf der Dinge. Gesammelte Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
558 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100022196

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