Vermessungseinheiten der Literatur

Zwei Publikationen beschäftigen sich mit der Raumdarstellung in der österreichischen Literatur

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In zwei schmalen Bändchen wird ein derzeit modisches Thema angepackt. Vor dem Hintergrund der grassierenden Debatten um den sogenannten „spatial turn“ in den Kultur- und Geisteswissenschaften, hier im Blick auf die Philologien, beschäftigen sich ebenso Cettina Rapisarda in „Raumentwürfe. Studien zu Gedichten von Ingeborg Bachmanns“ sowie die verschiedenen Beiträger des Sammelbandes „Reise und Raum. Ortsbestimmungen der österreichischen Literatur“,  welcher die Vorträge einer Jahrestagung ehemaliger StipendiatInnen des Franz-Werfel-Programms des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung und des Österreichischen Austauschdienstes enthält, mit der Raumproblematik.

Rapisarda diskutiert unter Bezugnahme auf Arbeiten, die sich im Rahmen der Erzählforschung mit dem Raumthema beschäftigt haben, insbesondere mithilfe von Michail M. Bachtins Vorstellung des „Chronotopos“, einige Gedichte Ingeborg Bachmanns. Dabei geht sie von der Leitüberlegung aus, dass „Raumbildlichkeit“ als Charakteristikum der Texte anzusehen sei. Nicht zuletzt bilden vor allem Grenze und Land „zwei zentrale Bilder in ihrem Gesamtwerk“, die Rapisarda auch noch in den poetologischen wie essayistischen Texten der Bachmann erkennt. Ja, dieser raumbildlichen Sprache komme geradezu „eine entscheidende und strukturgebende Bedeutung“ zu. In minuziösen, dabei die vorhandene Forschungsliteratur passend auswertenden Interpretationen („Mikroanalysen“), die dann auch den Einflüssen auf Bachmann – den bekannten (etwa von Robert Musil oder Ludwig Wittgenstein), aber auch den weniger auffälligen (wie etwa von Annette von Droste-Hülshoff) – nachgeht, analysiert Rapisarda zunächst das frühe Venedig-Gedicht „Schwarzer Walzer“, 1955 erstmals publiziert, dann in die Sammlung „Die Anrufung des großen Bären“ (1956) wieder aufgenommen, danach schwerpunktmäßig noch zwei Gedichte aus dem Nachlass, „Eine Art Verlust“ sowie „Für Ingmar Bergmann, der von der Wand weiß“. Immer kreisen Bachmanns Vorstellungen zentral um Fragen von Heimat und Identität – um etwas, das „durch die Grenzen bestimmt“ ist, womit, wie Rapisarda weiter annimmt, „eine extraterritoriale Identität entworfen“ werde. In Bachmanns poetischer Vorstellungswelt glaubt Rapisarda „zahlreiche literarische Entwürfe von Orten, die, wie Bachmann in der vierten Frankfurter Vorlesung sagt, auf einer ‚außerordentlichen Landkarte eingetragen werden müssen, in diesen Atlas, den nur die Literatur sichtbar macht‘“, zu finden.

Mit der österreichischen Literatur beschäftigen sich auch die verschiedenen Beiträge des Sammelbandes „Reise und Raum“, der von Arnulf Knafl herausgegeben wurde, wobei ein breiter historischer Bogen von der frühen Wiener Moderne über – natürlich – Ingeborg Bachmann bis zu Christoph Ransmayr, John William Waterhouse, Kathrin Röggla oder Thomas Glavinic gespannt wird. Den thematischen Hintergrund bilden die Begriffe Ort, Reise und Raum als, wie der Herausgeber eingangs bemerkt, „Vermessungseinheiten der Literatur“. Naturgemäß fällt es jedoch schwer, bei so disparaten, auch qualitativ überaus heterogenen Beiträgen eine Art Linie oder Fluchtpunkt auszumachen. Hinzu kommt, dass zwar oftmals die theoretischen Annahmen der Raum-Forschung (irgendwie) vorausgesetzt, aber nur selten explizit thematisiert werden, um zumeist dann aber schon wieder schnell aus dem Blick zu geraten. In einem gelungenen Essay von Marina B. Gorbatenko (St. Petersburg), der sich mit der Kleinprosa von Anton Pavlovic Cechov und Arthur Schnitzler befasst, kommt die Verfasserin zu dem Ergebnis, dass die Raum-Thematik bei beiden das 19. Jahrhundert verabschiedet, weil jetzt das Auseinandertreten von Außen- und Innenraum wahrgenommen, wenn auch – insofern sind beide Autoren Schwellenfiguren – noch nicht radikal zu Ende gedacht werde. Im Blick auf das Reisen analysiert Gennady Vasilyev (Nishnij Novgorod) einige Texte von Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann und Leopold Andrian, wobei – in den Worten Bahrs – das Reisen die Möglichkeit zur Selbstveränderung bietet. Maria Endreva (Sofia) diskutiert in ihrem Beitrag Rainer Maria Rilkes „Flucht vor bürgerlichen Bindungen“, um dann darauf hinzuweisen, dass Rilke vor allem eine Dingmetaphorik verwendet habe, um Inneres auszudrücken, dass es sich beim Landschaftlichen zum Beispiel „immer um eine Verdinglichung der Empfindungen, um ihre Verräumlichung“ handle. Zu Recht weist schließlich Kalina Kupczynska (Lodz) in ihrem instruktiven Artikel über „Die Alarmbereiten“ von Kathrin Röggla darauf hin, dass die Rede von der Referentialität der Texte bei dieser Autorin schwer falle; eher ließe sich hinsichtlich von Rögglas Poetik davon sprechen, dass hier ein „Kommentar zu Derridas Konzeption“ vorliegt, beziehungsweise – jetzt mit Foucault – dass die Diskurse, die Röggla (be-)schreibt, als „Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Archäologie des Wissens), anzusehen seien, das heißt, dass die „Grunddisposition“ der Alarmbereitschaft allererst im Text generiert werde.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Cettina Rapisarda: Raumentwürfe. Studien zu Gedichten Ingeborg Bachmanns.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
118 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783631648841

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Titelbild

Arnulf Knafl (Hg.): Reise und Raum. Ortsbestimmungen der österreichischen Literatur; Beiträge zur Jahrestagung der Franz-Werfel-StipendiatInnen am 26. und 27. April 2013 in Wien.
Praesens Verlag, Wien 2014.
188 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783706907866

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