Schuld sind viele

Helmut Kury stellt die Frage nach dem Bösen. Aber gibt es das überhaupt?

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gegenwart des Bösen ist offensichtlich und bedarf kaum einer Frage: Adolf Hitler, Josef Stalin, Francisco Franko, die Massaker in den verschiedenen Kolonien, in Indonesien oder im ehemaligen Jugoslawien. Filme wie „Killing Fields“ oder noch jüngst „The Act of Killing“ arbeiten sich daran ab. Man muss in der Geschichte nicht weit zurückgehen, um das Böse zu entdecken. Und in Geschichten ist es ebenso nah: Krimis sind voll vom Bösen, das um seiner selbst willen geschieht. Grausame Morde, Torturen und anderes, was an Willkür und Boshaftigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Das Böse hat sogar ein Gesicht, etwa das diabolische Grinsen des noch jungen Jeff Goldblum in „Ein Mann sieht rot“, kurz bevor er zur Vergewaltigung schreitet. – Aber wenn man genauer hinsieht, verschwindet es.

Helmut Kury ist Psychologe und Gerichtsgutachter, anscheinend, wenn man das als Fachfremder beurteilen kann, eine Koryphäe in seinem Fach, der auch nach seiner Pensionierung – Kury ist Jahrgang 1941 – noch als Gutachter arbeitet. In der Regel wird er bei Fällen eingesetzt, in denen zu prüfen ist, ob ein verurteilter Täter wieder in Freiheit gesetzt werden kann, ohne dass die Gesellschaft allzu große Risiken eingeht.

Wiederholungstaten sorgen generell nicht für große Freude, bei Sexualstraftaten und vor allem beim Kindesmissbrauch grenzen die öffentlichen Reaktionen an Hysterie: einen freigelassenen Kinderschänder in der Nachbarschaft? Da kocht die empörte Bürgerseele. Und sie ist auch denen gram, die dafür gesprochen haben, dass ein Verurteilter nach Verbüßen seiner Strafe wieder in Freiheit entlassen wird. Einfach wegsperren, das hat zumindest der Altkanzler Gerhard Schröder gefordert, was jedoch vor allem seinen Hang zu unüberlegtem Populismus zeigte.

Seis drum, das Böse ist jedem einsichtig: Mord, Gewalt, Missbrauch. Und das in einem Spektrum zwischen Nachlässigkeit und Absicht. Vergeltung ist das Mindeste, was dafür gefordert wird. Und nicht nur eine wie auch immer abzusitzende Haft. Das ist sogar verständlich. Eltern, Lebensgefährten, Freunde von Opfern bleiben mit einer Lücke zurück, die für den Außenstehenden kaum nachvollziehbar ist. Und die Strafprozesse helfen aus dieser Situation nicht heraus, nicht zuletzt, weil sie Opfer und Angehörige nur als Zeugen oder Nebenkläger kennen. Das Recht sucht den Ausgleich auf einer gesellschaftlichen Ebene, nicht auf der konkreten der Betroffenen. Was hilft einem das, wenn einem die Liebsten genommen werden? Nichts.

Allerdings ist auch das mit dem Bösen nicht so einfach, wie es auf den erste Blick scheint. Kury schildert eine Reihe von Fällen: Der junge Mann, der willkürlich eine junge Frau ersticht, oder der zweite, der einen Jungen ermordet, der ihn bei einem Einbruch erwischt, der Kunde, der eine Prostituierte malträtiert, der pensionierte Lehrer, der sich an seinen Nachhilfeschülern vergangen haben soll, der Flüchtling aus der Ukraine, der Drogerien überfällt, der jugendliche Herumtreiber, der alte Frauen, die auf der Straße leben, erschlägt. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Alles Mörder oder Triebtäter, alles Taten, die grausam sind und Unschuldige treffen – und selbstverständlich sind diese Taten böse. Aber sind es auch die Täter?

Kury schreibt Fallgeschichten und die Biografien der Täter. Wer sie aufmerksam genug liest, stellt fest, dass keiner dieser Täter ohne Ursachen handelt: Sie sind selbst Missbrauchsopfer, misshandelt, vernachlässigt, abgelehnt und malträtiert. Es gibt verschiedene Arten, mit denen man Kindern und Erwachsenen so zusetzen kann, dass die Gewalttat am Ende dabei herauskommt.

Dabei lässt Kury keinen Zweifel daran, dass seine Gesprächspartner für ihre Taten verantwortlich sind. Sie sind es, die morden oder missbrauchen. Aber Schuld trifft eben auch eine Gesellschaft, der es egal ist, was mit ihren Kindern passiert, Eltern, die überfordert sind oder nachlässig, Eltern, die ihre Kinder gewaltsam in ein Schema pressen, die schlagen oder verachten, die strafen und Vertrauen vorenthalten und missbrauchen, statt zu fördern und Vertrauen anzubieten.

Schuld ist ein großes Wort – und sie trifft in diesen Fällen viele. Was die Funktion der Strafe fraglich macht. Aber auch hier weicht Kury nicht grundsätzlich ab vom Strafanspruch der Gesellschaft. Gesellschaft muss strafen, das heißt Straftäter isolieren. Aber sie muss dies mit einem spezifischen Ziel tun, und das ist die Resozialisierung der Täter.

Zu diesem Ziel setzt Kury auf eine Vielzahl von Mitteln: Therapien für Triebtäter oder Täter, denen das Bewusstsein ihrer Schuld fehlt. Oder sogar Mediationen zwischen Tätern und Opfern. Für beide nämlich müsse mehr getan werden, als es das Rechtssystem bislang vorsehe. Und er verspricht sich davon Einiges, zumal die reine Strafdrohung kaum einen Effekt habe. Gerade das Umschwenken des Rechtssystems von der Vergeltung auf die Resozialisierung habe mit zu einer Senkung der Kriminalitätsraten geführt, die sich – gegen jedes allgemeine Bewusstsein – seit Jahren abzeichne. Für eine stärker auf Resozialisierung abzielende Haft, die Therapien und differenzierte Maßnahmen berücksichtige, sprechen, so Kury, auch wirtschaftliche Argumente. Haft ist teuer, Resozialisierung kommt billiger, gelungene Resozialisierung um so mehr. Und zwar ohne dass dabei das Recht der Opfer auf einen angemessenen Ausgleich unter den Tisch fällt.

Kurys Klienten sind zudem keineswegs jene Gewohnheits- und Dauerkriminellen, die das Krimigenre bevölkern, sondern von ihrer Herkunft, ihrer Tat und der Haft Gezeichnete. Selbst dann, wenn ihnen die Einsicht ihres Teils der Schuld abgeht.

Allerdings ist in Kurys Zugriff auf seine Fälle ein denkwürdiges, vielleicht auf sein Fach zurückgehendes Profil erkennbar. Der Autor zielt mit seinen Thesen auf die Schuldeinsicht der Täter. Er nennt das an einigen Stellen seines Buches ‚emotionale Schwingungsfähigkeit‛, was ein wenig esoterisch klingt. Genau da aber besteht das Problem des psychologischen Ansatzes: Betrachtet man die Fälle Kurys aus anderer Perspektive, dann folgen die Reaktionen, die zu den Taten führen, einer spezifischen subjektiven Ökonomie. Der junge Mann, der eine Zurückweisung mit Gewalt beantwortet, weil er überhaupt keine Möglichkeiten hat, anders zu agieren, der andere, der Empathie nie kennengelernt hat und dieses fremde Phänomen in dem Moment mit Gewalt beantwortet, in dem es ihm unvermittelt zu nahe kommt.

In der Welt dieser jungen Männer kommt Empathie zum Beispiel nicht vor. Sie müssten sie erlernen, um mit ihr umgehen zu können. Und sie müssten den Profit, den Empathie für sie bedeuten könnte, erkennen. Auf diesen Prozess setzt Kury. Dass so etwas freilich nicht durch die Haft befördert wird, kann man sich denken. Bleiben also nur die Therapie oder andere Formen sozialen Trainings, die das nachholen, was zuvor versäumt war. Die Gesellschaft tut sich mithin das Böse selbst an. Sie züchtet es in der eigenen Mitte und unter ihren je spezifischen Bedingungen. Ist ein Mörder also böse, wie der Klappentext fragt? Ja, das ist er, aber die Gesellschaft hat ihn böse gemacht. Sie sollte sich dessen bewusst sein und daran mitarbeiten, das Böse wieder zu vertreiben, ohne dabei restlos erfolgreich sein zu können.

Titelbild

Helmut Kury: Im Gehirn des Bösen. Die spektakulärsten Fälle eines Gerichtsgutachters.
Piper Verlag, München 2014.
288 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783492056199

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