Befreiung aus dem Korsett

Beate Kennedys Untersuchung zum narrativen Verfahren Irmgard Keuns widerspricht biographistischen Lesarten

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind vor allem zwei Romane, denen Irmgard Keun noch heute ihre Bekanntheit verdankt: „Gilgi, eine von uns“ und „Das kunstseidene Mädchen“. Beide wurden in der späten Weimarer Republik veröffentlicht und prägen bis heute das Bild der Autorin. Beate Kennedy sieht Keuns spätere Romane und ihre gesamte kurze Prosa gegenüber den beiden Erstlingen der Autorin vernachlässigt. Zu Unrecht, wie sie findet. Und damit liegt sie nicht ganz falsch. Jedenfalls unternimmt sie es, ihnen in ihrer breit angelegten Untersuchung der „narrativen Verfahren“ und der „literarischen Autorschaft“ in Keuns Gesamtwerk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem sie fast alle Texte Keuns berücksichtigt. Hierfür hat sie eine gründliche Recherchearbeit geleistet, die sich auch in den „ausführlichen bibliographischen Angaben zu sämtlichen Werken und Briefen Irmgard Keuns“ niederschlägt, in der alle Erstdrucke verzeichnet sind.

Vor allem aber spricht sich Kennedy gegen die oft biographistische Lesarten und Textinterpretationen von Keuns Werken aus, die der Keun-Forschung bislang einen „Weg zu einer Analyse versperrt“ haben, der Keuns Texte „als literarische Ereignisse mit eigener Beschaffenheit ernst nimmt“. Zwar, so räumt Kennedy ein, möge „die Kompilation von Lebens- und Werkdaten für eine Recherche zur Autorpersönlichkeit“ taugen, doch sie bleibe „stets wenig erhellend für das, was die Texte in ihrer Erzählstruktur ausmacht“. Daher unternimmt sie mit der vorliegenden Arbeit den „Versuch“, „das Verhältnis von Autorschaft und Text neu zu bewerten“. Hierzu bedient sich ihre „stilsemiotisch und narratologisch angelegte“ Studie des „Paratextmodells“, das die „Ausweitung des untersuchten Korpus auf die nichtnarrativen, (oberflächlich) nichtfiktionalen Texte der Autorin“ erlaubt.

Nachdem Kennedy die ihrer Untersuchung zugrunde liegende Theorie und Methode erläutert und begründet hat, analysiert sie zunächst in chronologischer Folge Keuns „fiktionale Einzeltexte und Texteinheiten“ sowie anschließend die „hybriden Textformen“, also etwa Briefe, autobiographische Texte und „journalistische Formate“ aus der Feder Keuns.

Wie Kennedy anmerkt, betritt sie insbesondere mit der Untersuchung der Briefwechsel Keuns Neuland. Denn die Korrespondenzen, welche die Literatin mit Arnold Strauß und Hermann Kesten führte, wurden bislang noch keiner „literaturwissenschaftlichen Betrachtung unterzogen“. Leider wird dieses interessante Unternehmen dadurch beeinträchtigt, dass Keuns Briefwechsel mit Strauß „dem Einsturz des Historischen Archivs [in Köln] im März 2009 zum Opfer gefallen“ ist, so dass Kennedy im Falle dieser Korrespondenz auf die wenigen gedruckt vorliegenden Briefe verwiesen war. Kennedys Analyse konzentriert sich auf die Frage, „was die Briefe in ihren paratextuellen Funktionen und Effekten zum einen in Bezug auf Keuns Kommentare zu ihrem Schreiben enthalten, zum anderen auf ihre Eigenschaft als ‚ästhetische Variante‘ des Werks“.

Die Autorin kommt im Laufe ihrer Untersuchung zu einigen originellen und nicht selten erhellenden Befunden. Wenn sie in der Titelfigur des Exilromans „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“ eine „Vorläuferfigur zu der wenig später entstandenen populären Kinderbuchfigur Astrid Lindgrens“ Pippi Langstrumpf ausmacht, so ist das eine zwar nur marginale aber doch interessante Bemerkung. Für die Keun-Forschung bedeutsamer ist hingegen, dass Kennedy zeigt, wie die Literatin ihre „in ‚Gilgi‘ entwickelten Figurenstereotype“ in ihren späteren literarischen Werken „fortwährend“ zitiert und herausarbeitet, „wie stark schon in ‚Gilgi‘ narrative Codes angelegt sind, die ähnlich den auf figuraler Ebene zu beschreibenden ‚Versatzstücken‘ bzw. Interdiskursen in Keuns Prosa wiederholt auftauchen“.

Nicht minder instruktiv ist Kennedys Analyse des weithin unterschätzten Romans „D-Zug dritter Klasse“, zeigt sie doch im Widerspruch zu vielen bisherigen Befunden, „dass die Themen nationalsozialistisches Deutschland und Exil in diesem Text“ sehr wohl „intensiv bearbeitet und dabei differenziert und kritisch beleuchtet“ werden, „allerdings gerade nicht auf einer explizit sie verhandelnden Ebene, sondern in der Art, wie durch sehr dicht gewobene narrative Strategien die Figuren, ihre Lebensgeschichte und ihre momentane Situation gezeichnet sind“. In dem Anfang der 1950er-Jahre erschienenen Roman „Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen“ wiederum macht Kennedy „eine Reflexion über die Disposition remigrierter AutorInnen in der westlichen Nachkriegszeit“ aus, „welche den Verlust der Sprache und der erzählerischen Möglichkeiten beklagt“.

„Keuns Spracharbeit“ resümiert Kennedy die Ergebnisse ihrer Untersuchung, „findet immer und überall zugleich statt, auf der phonetischen über die lexikalische zur syntaktischen bis auf die Textebene kann sich eine sprachliche Wendung in vielschichtiger Weise entfalten“. Auch darum sei es „legitim, von einem Werk der Autorin Irmgard Keun zu sprechen, und damit die Vorstellung einer tätigen Autorschaft zu verbinden.“

Solche instruktiven Erkenntnissen machen Kennedys Untersuchung ungeachtet der zuweilen etwas sperrigen Formulierungen zu einer Bereicherung der Keun-Forschung. Auch ist Kennedy alleine schon dafür zu danken, dass sie Keuns Werk aus dem biographistischen Korsett befreit hat, in das es bis in die jüngere Vergangenheit hinein von allzu vielen LiteraturwissenschaftlerInnen gezwängt wurde. Angesichts des stolzen Preises von knapp 100 Euro und der knappen finanziellen Ausstattung der Universitäten, die insbesondere in den Geisteswissenschaften den Rotstift ansetzen, dürfte man allerdings in allzu vielen Bibliotheken auf eine Anschaffung verzichten. Das ist bedauerlich.

Titelbild

Beate Kennedy: Irmgard Keun: Zeit und Zitat. Narrative Verfahren und literarische Autorschaft im Gesamtwerk.
Reihe: Deutsche Literatur. Studien und Quellen / Band 17.
De Gruyter, Berlin 2014.
520 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783050064642

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