Die Didaktik der Groteske

Eine Graphic Novel von Max Mönch, Alexander Lahl und Kitty Kahane zum Ende der DDR

Von Holger EnglerthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Englerth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mittlerweile ist es ohne Weiteres möglich, volljährig zu sein und zugleich den Fall der Mauer in Berlin nicht als bewusster Zeitzeuge oder als -zeugin mitbekommen zu haben. Das Ereignis wird Geschichte. Nun haben gerade Comics (oder, wenn man so will: Graphic Novels) ein zuweilen sehr inniges Verhältnis zur Geschichte – die Kombination von Erzählung, Text und Bild kann eine Unmittelbarkeit erzeugen, die sich einem der Ziele der Historiographie nähert: Vergangenheit erlebbar und nachvollziehbar zu machen. „Treibsand“, das zweite Werk des Autorenduos Max Mönch und Alexander Lahl sowie der Zeichnerin Kitty Kahane ist dafür nahezu ein Lehrbeispiel. Die letzten Monate und Tage der DDR werden aus einer ganzen Reihe von Perspektiven beleuchtet.

Im Zentrum steht Tom Sandman, ein amerikanischer Korrespondent, der Zeuge des Massakers am Tian’anmen-Platz war und nun von seinem Chefredakteur, einem echten Kommunistenfresser und eine „unwiderstehliche Mischung aus Sklaventreiber und väterlichem Freund“, in die DDR geschickt wird, um von den Protesten gegen das Regime zu berichten. Ein unbeteiligter Beobachter bleibt Sandman dabei nicht lange, sein Kontakt, die Oppositionelle Ingrid Bärenwolf, erweckt mehr als nur professionelles Interesse bei ihm – trotz des etwas unglücklichen Einstiegs, in dem der volltrunkene Sandman ihr versichert: „I äm se Feind aller Kommunisten!“ Die Liebesgeschichte steht als einer von mehreren Zugängen gleichberechtigt neben den anderen: Sandman ist vor allem ein Erzähler von Zeitgeschichte, teils in geraffter Form, teils mit einem beeindruckenden Blick für Details.

An der zentralen Stelle fällt er hingegen aus, denn gemäß seiner Privattheorie, der Zustand seiner Zähne spiegle das Weltgeschehen wider, versäumt er, von einem eitrigen Kiefer außer Gefecht gesetzt, ausgerechnet den Fall der Mauer am 9./10. November 1989. Was so ziemlich der schlimmste Albtraum für einen Journalisten sein muss, verschafft der Graphic Novel aber auch die Möglichkeit, die Erzählung von seiner Person zu lösen. Die Schilderung der Geschehnisse verlässt sich hier auf die Recherche der Autoren und lässt bei aller Konzentration auf das Zufällige und Aberwitzige dennoch nicht übersehen, dass das Regime beinahe den Weg der gewalttätigen Reaktion gewählt hätte. „Treibsand“ will zwar nicht die Geschichte der DDR erzählen, aber vermittelt doch, welches System hier zu Ende gegangen ist. Es war ein Staat, den seine Bürgerinnen und Bürger verlassen wollten. Am erfolgreichsten waren dabei in den Jahren seines Bestehens gerade jene, die als Grenzschützer den Staat zum Gefängnis machen sollten.

Kitty Kahanes Zeichnungen liefern eine weitere und eigenständige Ebene der Erzählung. Ihr krakeliger, zwischen Karikatur, Reduktion und Dokumentation oszillierender Zeichenstil hält sich bewusst von plattem Realismus fern. Ihre Bilder sind nicht bloße Illustrationen zum Text, sondern bestimmen mit ihrer Widerborstigkeit und stilistischen Vielfalt die Lektüreerfahrung entscheidend mit. Insbesondere in den Traumsequenzen von Sandman verfließen dadurch auf beinah surrealistische Weise die verschiedenen Ebenen der Geschichte(n) miteinander. Die Kolorierung, besorgt von André Kahane, verdient gesonderte Erwähnung: Die gedeckten, matten und zuweilen düsteren Farbflächen garantieren Distanz und Kühle auch in den expressivsten Darstellungen.

„Treibsand“ wurde durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert. Die didaktische Intention der Graphic Novel ist kaum zu übersehen, vor allem in den nachgestellten Notizen Sandmans, die einen knappen lexikalischen Crashkurs in DDR-Geschichte bieten. Nicht immer vermag der Comic die Balance zwischen den einzelnen Ebenen von persönlicher Story, zwischen großer und kleiner Geschichte zu halten. Die sich langsam entfaltende Biographie von Ingrid, die als Schwimmerin das Land verlassen wollte und als verratener Republikflüchtling die Frauenhaftanstalt Hoheneck durchleiden musste, bevor sie vom Westen freigekauft wurde, geht näher, als die schematische Lovestory mit Sandman. Erst die Aufdeckung des familiären Hintergrundes macht deutlich, wie sehr hier ein Staat bis ins Privateste Misstrauen säen und unüberwindbare Gräben schürfen konnte, selbst noch über sein Ende hinaus. Die Zahnschmerzen Sandmans verblassen im Vergleich mit den ruinierten und zerstörten Lebensläufen, die „Treibsand“ in Erinnerung ruft. Wie sehr die DDR allerdings 1989 schon auf Sand gebaut war, verdeutlicht eine der absurdesten und unterhaltsamsten Szenen in der Nacht des Mauerfalls – wobei auch in diesem Fall eine deutlichere Auszeichnung der Quellen wünschenswert wäre: Als die ersten Personen nach ihrem Ausflug in den Westen wieder zurückkehren wollen, sind die Grenzbeamten verblüfft: „Wie zurück? Die sind doch ausgewandert?“ Dass die Leute einfach „nur gucken“ wollten, entsprach nicht dem Denken des Kalten Krieges, das in dieser Nacht in Deutschland sein Ende fand. Die Graphic Novel ist eben auch Comic – und in der Groteske vielsagender, als in der puren Dokumentation.

Titelbild

Max Mönch / Alexander Lahl: Treibsand. Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR.
Gezeichnet von Kitty Kahane.
Metrolit Verlag, Berlin 2014.
166 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783849303587

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