Als man noch wußte, was das Abendland war

Wolfgang Sofskys Roman „Weisenfels“ macht den Leser zum Zeugen einer Reise ins Niemandsland

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei einer Zeitenwende, heißt es, kriegen nicht alle die Kurve. Der Protagonist aus Wolfgang Sofskys neuem Roman „Weisenfels“ gehört zu denen, die ein Bemühen darum von vornherein ablehnen. So lebt er, fernab finanzieller Nöte und Alltagssorgen, der profanen Wirklichkeit abhanden gekommen, in der Abgeschiedenheit eines Schlosses, unberührt vom Treiben der gewöhnlichen Menschen. Aber diese Zeitenwende spielt in Sofskys Text nur eine Nebenrolle – zauberberghaft hat sich ein „stehendes Jetzt“ der Welt bemächtigt, während im Flachland die Dinge ihren Gang gehen. Der Held, Detloff von Weisenfels, ist ein melancholisches Überbleibsel einer vergangenen, nicht unbedingt besseren, aber doch vermissten Welt, ein skeptischer Romantiker, ein Dandy des Scheiterns, egoman und von vergessen geglaubtem Dünkel. Aus einer Zeit, als in Kaffeehäusern noch geraucht wurde, „als man noch wußte, was das Abendland war“ – und als man „wußte“ noch mit scharfem S schrieb.

Ein unbenannter Ort in den Bergen, eher ein Dorf aus dem 19. Jahrhundert, dann ein Schloss, das verfällt, dazu ein Angehöriger alteingesessenen Adels – ein Setting, das ein geräumiges Feld für Assoziationen eröffnet: Kafkas „Schloss“, Stifters „Nachsommer“, Rilkes „Malte“, Thomas Manns „Zauberberg“ und so weiter. Doch hier und da finden sich noch Relikte der Gegenwart, einer Gegenwart, wie wir sie alle kennen: Supermärkte, synthetische Aromen, schnellwachsende Kiefern, Cocktailkirschen.

Das Schloss aber ist sowohl ein Refugium für eine elitäre Existenz und Gespräche bei Whisky und Zigarre als auch rein geistiger Ideen-Ort, durchweht von „gleichgültiger Weltlosigkeit“. Hier verwildern Marmorbilder im Park, hier liegen Thukydides und Pausanias in zweisprachigen Leinenausgaben im Regal: Es ist die passende Kulisse für das Schauspiel der Aphorismen und Kontemplationen, die der Protagonist deklamiert. Und so ist auch „Weisenfels“ aus der Zeit gefallen und entfremdet uns – ex negativo – noch vom Allzu-Vertrauten.

Hier ist nichts wirklich, es ist eine phantasmagorische Landschaft, die Sofsky schafft, wie überhaupt die Reise des namenlosen Erzählers zu seinem Jugendfreund, eben diesem Detloff von Weisenfels, einer Traumreise gleicht. Nach dreißig Jahren erscheint dem Erzähler die Welt, in die er heimkehrt, fremd und seelenlos, auch das Verhalten seines alten Freundes oszilliert zwischen Gastfreundschaft und abweisender Unaufmerksamkeit: „Der Besucher wußte nicht, wohin er geraten war, und nichts half ihm über die Verwirrung hinweg.“ So geht es dem Leser mit guter Literatur, man gerät als Gast in ein Land, ohne zu wissen, ob man willkommen ist oder nicht. „Weisenfels“ ist ein Beispiel solch guter Literatur, die sich weigert, uns über unsere Verwirrung hinwegzuhelfen.

Schon die Genrezugehörigkeit der 230 Seiten ist ein Rätsel: Ist das wirklich ein Roman, ist es eher eine längere Erzählung oder einfach nur ein Prosatext, der „Erzählung, Kunstbetrachtung und philosophische Reflexion kunstvoll miteinander verknüpft“, wie es in der Verlagsankündigung heißt? Kunstvoll ja, miteinander verknüpft – nein. Detloffs essayhafte Ausführungen stehen disparat da, ebenso wie die Figuren selbst mitsamt der gespenstischen Szenerie, und haben mit dem, was man die Überreste einer Erzählung nennen könnte, nicht viel zu tun. Hier lässt sich jemand über Kunst und Tod und Leben aus, dessen Ansichten uns nicht deswegen interessieren müssten, weil wir ihn als Person kennenlernen – ganz zu schweigen davon, dass Sofsky seinen Lesern hier irgendwelche Identifikationsangebote machen würde. Detloffs Sentenzen erreichen bisweilen die Emphase eines Oscar Wilde, wohlgemerkt ohne dessen Witz: „Was soll man tun angesichts des Mangels an Zeitgenossen, mit denen sich der Umgang lohnt?“ Pessimistisch, blasiert, auf jeden Fall unzeitgemäß könnte man seine Betrachtungen nennen – und wo, wenn nicht in der Literatur, hat die Unzeitgemäßheit in diesen Zeiten ihren Platz?

Detloff (allein der Name!) bleibt ein Sonderling, ein „Narr aus überlebter Zeit“, sein Schicksal lässt uns kalt, ebenso wie der Fortgang der Geschichte. Es ist eine Geschichte fortschreitenden Verfalls, wirtschaftlicher wie moralischer Natur; die Familie von Weisenfels war lange Zeit der größte Arbeitgeber in der Region, man betrieb eine Kräuterschnapsfabrik, ein Hotel und ein Gestüt, doch Detloff, der letzte Erbe, schließt radikal mit dieser Welt ab, „man könne sich seine Familie zwar nicht aussuchen, aber man könne selbst entscheiden, ob man eine Familie fortsetzen wolle, für die man nicht geboren sei.“ Zwischen Thomas Buddenbrook und Des Esseintes bleibt ihm nur die Flucht in misanthropische Aperçus: „Was er in Weisenfels tue, sei keine Passion, sondern nur eine Methode, die Zeit tozuschlagen. Er habe keine Mission, zutiefst verabscheue er Menschen mit Mission.“

Der Erzähler wird, und mit ihm der Leser, zum Zeugen gerufen für die stattfindende Abwicklung vom Überkommenen, darin findet er seinen Zweck. Wie er wohnen wir einer tabula rasa bei, die vor dem Schönen und Erhabenen keinen Halt macht. Banalität und Barbarei, hier geistig-ästhetischer Naur, sind auf dem Vormarsch. Eine „kleine Lust am Untergang“ bemächtigt sich unser. Den letzten Ausweg aus dieser Zeitenwende kann Detloff erwartungsgemäß nur in einer „Reise ins Niemandsland“ finden.

Sofskys Roman selbst aber ist nur Beobachter der Reisevorbereitungen. Die Höhe seines Stils, geprägt von spröder Eleganz, bleibt konstant auf elitärem Niveau, die beinah harmonische Verfasstheit von „Weisenfels“ macht den Abstieg seines Protagonisten nicht mit. In Sprache und Stil, in Tonfall und Textur, vor allem aber in seiner Verweigerungshaltung dem konventionellen Erzählen gegenüber behauptet der Roman ein Kunstverständnis, dessen Verlust er gleichzeitig beklagt.

Titelbild

Wolfgang Sofsky: Weisenfels.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
235 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783957570055

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