Das Geheimnis der Schönheit

In einem großen, posthum erschienenen Essay geht der Kunsthistoriker Werner Hofmann der Geschichte der geschwungenen Linie von der Höhlenmalerei bis zu Duchamp und Hundertwasser nach

Von Ingo ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingo Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es bedurfte längst einer neuen Analyse der Schönheit“. In Alan Hollinghursts Roman „Die Schönheitslinie“ schießt dem Protagonisten Nick Guest plötzlich dieser Satz durch den Kopf. Die gekrümmte Rückenlinie seines Liebhabers im Bett vor ihm verkörperte für den jungen Mann genau die gewundene Schlangenlinie, die der britische Maler William Hogarth seinem Standardwerk „Analysis of Beauty“ als Metapher vorangestellt hatte.

Das Beispiel demonstriert die Persistenz der Idee, die „S-Linie“ sei der Schlüssel zum Geheimnis der Schönheit. Hollinghursts Roman stammt aus dem Jahr 2005, Hogarths Werk erschien 1753. Es ist also mehr als eine persönliche Grille, wenn Werner Hofmann diesem Komplex ein ganzes Buch gewidmet hat. Wie um deren, die Jahrhunderte durchziehende Kraft und Attraktion zu belegen, zitiert Hofmann gleich zu Beginn seiner dreizehn Variationen zu dem Titel „Die Schönheit ist eine Linie“ den französischen Maler Charles Alphonse Dufresnoy mit dem Satz: „Eine schöne Figur und ihre Teile müssen immer eine schlangenförmige und flammende Form haben“.

Das Buch ist eine Art Vermächtnis des 1928 in Wien geborenen Kunsthistorikers, der von 1969 bis 1990 die Hamburger Kunsthalle leitete. Und mit Ausstellungen zu Caspar David Friedrich bis Georg Baselitz europäische Kunstausstellungs-Geschichte schrieb. Das Manuskript wurde nach seinem Tod 2013 aus dem Nachlass ediert.

In der Antike war der sagenhaft schöne Jüngling Adonis das Symbol der Schönheit. Für Georg Friedrich Wilhelm Hegel war Schönheit das sinnliche Erscheinen der Idee. Und die Neuroästhetik unserer Tage will hinter das Geheimnis der Schönheit durch die Analyse unserer Bewusstseinsströme im Gehirn kommen. Wenn Hofmann nun auftritt und schon im Titel dekretiert: „Schönheit ist eine Linie“, klingt das nach einer dogmatischen Ästhetik. Sein Buch ist aber alles andere als eine solche Setzung.

Denn gleich zu Beginn bekennt sich der Kunsthistoriker zu einem „erweiterten Kunstbegriff“. Es geht ihm nicht um eine ganz bestimmte Linie, etwa der geschwungenen Linie des Jugendstils, „deren Ideal die feierliche Exklusivität ist“. Und in seinem Buch schlägt Hofmann dann einen weiten Bogen von der aquitanischen Höhlenmalerei bis zu der „endlosen Linie“, mit der der Künstler Friedensreich Hundertwasser 1959 in einer berühmten Aktion die Wände eines Ateliers der Hamburger Kunsthochschule überzog.

Hofmann entdeckt die Schönheitslinie in der kreisenden Sonne von Van Goghs „Sternennacht“ von 1889, in Marcel Duchamps „Urinoir“ von 1917 oder in der metallisch glänzenden Großplastik „Berlin“ des Künstlerpaars Matschinsky-Denninghoff, die 1987 ihren Platz auf der Einkaufsmeile Tauentzienstraße in Wilmersdorf fand und als Symbol für die deutsche Teilung fungierte. Er sieht sie als „Kammerton der surrealistischen Sprachmittel“ genauso wie er die Schönheitslinie im fernöstlichen Ying-Yang-Symbol sieht. All diese Symbolisierungen faszinieren ihn als Zwitter aus Gegenständlichkeit und Abstraktion, Erfindung und Nachahmung. Ihren symbolischen Ausdruck finden sie in der Schlange, dem Zwitterwesen zwischen Gut und Böse: Einmal ist sie die Heilsbringerin des Äskulapstabes, einmal die Schauerkreatur, die dem Medusenhaupt entweicht.

Als „Schlangenerlebnis der europäischen Kunst“ bezeichnet Hofmann eine Arbeit Leonardo da Vincis aus dem Jahr 1508/1509. Darauf hatte der Künstler die Verschlingungen im innersten des menschlichen Körpers: Magen und Eingeweide dargestellt. Für Hofmann eine „ungeheure und undurchschaubare Verschlingung als Gleichnis für das, was wir Leben nennen“.

Hofmann jagt in seinem anspruchsvollen, aber immer luziden Essay zum Glück nicht der Hogart‘schen Zauberformel nach. Der hatte „seine“ S-Linie noch den Schlangenlinien abgeschaut, die die höfische Gesellschaft beim Tanzen des Menuetts auf dem Fußboden beschreibt. Für Hogarth erhob sich die S-Linie über der „Variety“, der Vielfalt des irdischen Lebens. Gegen dieses statische Symbol absoluter Schönheit setzt sein moderner Wiedergänger nun die S-Linie als „offenes System“. Er sieht sie in der der Spirale und der Zickzacklinie. „Ihr Grundton ist die spontane Expansion linearer Energien“.

Dieses flexible Konstrukt fasziniert Hofmann, weil es such „außerhalb der Stilvokabulare“ bewegt. Seine Vieldeutigkeit und ihre Ambivalenz bilden für ihn das „konstituierende Merkmal künstlerischer Weltaneignung“. Die jähen Wendungen im Erscheinungsbild der von ihm zitierten Beispiele für die Schönheitslinie machen Hofmanns Interesse nicht nur sinnlich sinnfällig. Sie lassen auch die Metaphysik begründet erscheinen, die er deren Betrachtung abgewinnt: „Ereignis, Überraschung und Verwandlung“ sind die zentralen Elemente, die für Hofmann den schwer fassbaren Begriff „Schönheit“ ausmachen. „Der Schlangenkörper ist bedeutungsoffen“, sagt Hofmann und spricht von seinen Beispielen als „polyfokalen Trägern von Ambivalenzen“. So wie er die legendäre „S-Linie“ als Symbol für die Energie unermüdlicher Verwandlung und Variation auffasst, als Symbolisierung von „Vielbedeutung“, wird aus einem mythischen Konstrukt eine fast schon postmoderne Auffassung vom Wesen des Schönen.

Für den postmodernen Kunstwissenschaftler von heute ist Hofmanns Werk gewöhnungsbedürftig. In Duktus und Referenzen begegnet er einem humanistisch geprägten Kunsthistoriker alter Schule mit eurozentrischer Perspektive. Keine der zahlreichen, mit 148 wunderbaren Abbildungen belegten Artefakte, auf die er sich bezieht, entstammen außereuropäischen Kulturräumen. Dennoch begeistert, wie souverän der legendäre Museumsmann in seinem Buch alle Register der Kunst-, Kultur- und Geistesgeschichte zieht:  Seine großartige Tour de Force durch das historische Material, vom Paläolithikum bis heute, lohnt sich. Denn Hofmanns „Analysis of Beauty“ mündet in der überraschend zeitgenössischen Definition von der „S-Linie“ als „Möglichkeitsform par excellence“.

Titelbild

Werner Hofmann: Die Schönheit ist eine Linie. 13 Variationen über ein Thema.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
223 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406644900

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