Auf der anderen Seite der Tür

Margaret Atwoods Gedichtband „Die Tür“ erscheint pünktlich zum 75. Geburtstag der Kanadierin

Von Sandy LunauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Lunau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die gefeierte Autorin, die neben anderen wichtigen Auszeichnungen mit dem Booker Prize, dem Prinz von Asturien Preis und dem Nelly Sachs Preis bedacht wurde, nicht nur eine begnadete Erzählerin ist, sondern auch als Lyrikerin Erfolge vorzuweisen hat, ist hierzulande den meisten nicht bekannt. Von den 17 Gedichtbänden der Kanadierin sind demgemäß auch bislang nur drei ins Deutsche übersetzt worden, zuletzt die bereits 2007 in Kanada erschienene Sammlung „The Door“, aus dem Englischen übertragen von Monika Baark, die nun zwar sieben Jahre nach dem englischen Original, dafür aber in einer liebevoll gestalteten zweisprachigen Ausgabe mit Leineneinband und Lesebändchen im Berlin Verlag vorliegt.

Großen Themen widmet sich Margaret Atwood in „Die Tür“, die in diesem Werk sinnbildlich für die Schwelle zum Unterbewussten, zum Verdrängten und Vergessenen, sowie für den Übergang zu anderen Zuständen steht. Nichts weniger als Familie, Politik, die Rolle des Dichters und die Herausforderungen des Alterns sind die Komplexe, an denen sich die Kanadierin lyrisch abarbeitet.

Das Vergehen der Zeit ist dabei für alle Themen ein Leitmotiv. So befasst sich Atwood in Bezug auf die Familie weniger mit den Schatten und Gespenstern der Kindheit, sondern widmet sich vornehmlich den veränderten Konstellationen familiärer Beziehungen unter dem Einfluss der vergehenden Zeit. Das Dahinsiechen der Mutter, Erinnerungen an den längst verstorbenen Vater, die Verbindung zur Schwester über den Tod der gemeinsamen Katze: familiäre Beziehungen werden stets unter dem Vorzeichen der Vergänglichkeit, dem unaufhaltsamen Fortschreiten der Zeit präsentiert. Immer steht Verlust im Mittelpunkt, der von Menschen, aber auch der von Illusionen. Familie ist hier nicht nur ein Hort der Geborgenheit, sondern wird ambivalent gezeichnet, als schwankend zwischen Idylle und Gefährdung. Paradigmatisch steht hierfür das Gedicht „Resurrecting the doll house“. Ein latenter Unterton von Bedrohung und Verrat durchzieht diesen Text, in dem auch die Illusion der heilen Familie sowie die damit einhergehenden Rollenklischees untergraben werden. Dabei sind es nicht ausnahmslos ominöse, feindliche Kräfte, von denen die Gefahr ausgeht. Zumeist ist es schlicht und ergreifend die verstreichende Zeit, die mit ihren „Begleiterscheinungen“ von Tod und Verlust das Heim bedroht:

„Madeleine ist erst drei,
doch sie weiß schon,
dass das Baby zu groß ist für den Wagen,
man kann es noch so fest hineinzwängen,
eines Tages, wenn es eigentlich schlafen soll,
wird es durch eine Lücke in deinem Gedächtnis schlüpfen
und entkommen.“

Der Gestus, in dem Atwood Alltäglich-Banales auf beinahe groteske Weise mit fundamentalen Fragestellungen des Lebens montiert, erinnert an die Confessional Poets der 50er und 60er Jahre wie Sylvia Plath und Anne Sexton. Vergleichbar zu diesen wird in „The Door“ oft eine Konfrontation von Oberfläche und Dahinterliegendem, zwischen Pathos und Nüchternheit zwischen Erhabenem und Banalem inszeniert. Auch die schonungslose Selbstentblößung, die Atwood besonders in den Gedichten über ihre Familie, aber auch in den Texten zur Rolle des Dichters kultiviert, lässt zu, sie in dieser Tradition zu verorten. In Letzteren wird die Identifikation des lyrischen Ichs mit der Autorin auf die Spitze getrieben, jedoch gleichzeitig durch trockene Selbstironie gebrochen. Diese Kombination macht Atwoods unverkennbaren Stil in diesen Gedichten aus, eine Verquickung von bissigem Witz und unterhaltsamer Leichtigkeit auf der einen und emotionalem Tiefgang und existentieller Not auf der anderen Seite. Der lakonisch-ironische Ton relativiert die melancholisch-nostalgische Grundstimmung und bewahrt die Gedichte vor dem Sturz ins Kitschige und Pathetische. Doch trotz der latenten Distanzierung kann man Atwood nicht eine alles durchdringende Losgelöstheit oder gar Zynismus unterstellen. Denn immer ist ihr auch daran gelegen, den Glauben an ein Leben in Würde aufrechtzuerhalten. Eine tief empfundene Resignation, bisweilen auch Frustration angesichts der widrigen Umstände des Lebens, die ein würdevolles Dasein behindern durchdringt ihre Gedichte.

Dies betrifft vor allem auch Atwoods Texte zur Figur und Rolle des Dichters, in denen das Bemühen um dichterischen Ernst und Anspruch mit der beschränkten Wirksamkeit der Poesie in den Augen des Publikums und auch dem die Ziele der Dichtung preisgebenden Literaturmarkt kontrastiert wird. Atwood gesteht zwar an vielen Punkten die Vergeblichkeit dichterischer Bemühungen ein. Auch zeichnet sie bisweilen den Dichter als eine Figur, die sich in den Augen der Mehrheit eine gewisse Fremdartigkeit, wenn nicht gar Lächerlichkeit und vor allem Alltagsuntauglichkeit auszeichnet. Anklänge an Baudelaires „L’Albatros“ werden deutlich, wenn es wie im Gedicht „Die Dichter halten durch“ heißt

Auch mit den Flügeln haben sie Probleme.
Geboten wird uns wenig dieser Tage

in Sachen Flugkunst.
Kein Schweben mehr, kein Strahlen,

keine Lustsprünge.
[…]
Sie kommen nicht vom Boden hoch,
mit ihren schlammigen Federn.

Wenn sie fliegen, dann abwärts
in die feuchte graue Erde hinein.

Aber letztlich ist es für Atwood die Zwecklosigkeit, die Ungebundenheit an Zwänge und die Irrationalität, die die Erhabenheit und auch die Dringlichkeit der Dichtung als Aufgabe ausmacht. So wird in „Dichterlesung“ eine stark karikierte Zuhörerperspektive mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit der dichterischen Betätigung und der Selbstdarstellung des Dichters als unter seinen Fragen und seinem Wissen leidender mit der schieren Emotionalität der Erfahrung von Lyrik kontrastiert und somit eine Lanze für die Poesie gebrochen:

Vorsicht: Metaphern –
und man erkennt, dass am Ende doch
kaltes Handwerk dahintersteckt, wie bei Perlarbeit
oder beim Ausnehmen einer Makrele.
Es gibt Methoden, es gibt Tricks.

Gerade kommt man sich betrogen vor,
da bricht seine Stimme abrupt ab. Ein kleines Nicken
und ein Lächeln und ein Innehalten, und man atmet ein und spürt die Luft
wie einen Fausthieb in der Magengrube
und applaudiert zusammen mit den anderen.“

Auch ihre politischen Gedichte sind bestimmt von der Kluft zwischen Anspruch und Realität, zwischen Idealen und Ernüchterung. Die in der gesamten Sammlung prominenten Tier- und Naturmetaphern werden hier besonders zentral. Dies lässt sich zum einen auf Atwoods Engagement im Bereich des Natur- und Umweltschutzes zurückführen, das sich deutlich in Texten wie zum Beispiel „Lamento eines Bären“ niederschlägt. Doch nutzt sie darüber hinaus die Naturbilder, um den der kalten Sphäre der Rationalität und Macht die lebendige und pulsierende Menschlichkeit entgegenzuhalten, deren Mangel sie in zahlreichen Gedichten als die Wurzel allen Übels identifiziert. Aus diesem Grund ist es auch ein zentrales Anliegen der Textsammlung, die Perspektive der Opfer einzunehmen, was besonders in den Kriegsgedichten im Vordergrund steht. So wird in den beiden Texten „Kriegsfoto“ und „Kriegsfoto 2“ ein Dialog mit einem namenlosen Kriegsopfer imaginiert, dem auf diese Weise Anerkennung und vor allen Dingen eine Stimme verliehen wird.

Stattdessen tue ich für dich
das Einzige, was ich kann:
zwar werde ich deinen Namen niemals kennen,
doch vergessen werde ich dich nie.
Siehe: auf dem staubigen Boden
unter meiner Hand auf diesem billigen grauen Papier,
lege ich einen kleinen Stein ab, hier
                                                                              O

Atwoods Gedichte zeichnen sich durch große Kreativität in der Bildwahl und durch innovative Zugänge zu klassischen Themen der Dichtung aus: Zeit und Vergänglichkeit, Dichtung und Künstlertum, Familie und Partnerschaft, Alter und Tod. Dabei lässt sich eine gelungene Balance zwischen Tiefgang und Unterhaltung, Emotionalität und Analyse feststellen. Besonders der trockene Witz, der auch vor der Dichterin selbst nicht Halt macht, macht die Lektüre kurzweilig und beweist, dass Lyrik auch durchaus Spaß machen darf. Leider lässt aber die Übersetzung durch Monika Baark an einigen Stellen Einfallsreichtum vermissen. Eine größere Einfühlung in Atwoods vielschichtige Sprache und die möglichen Bedeutungsfacetten des Englischen wäre an dieser Stelle wünschenswert gewesen. Es ist zu hoffen, dass dies einer breiteren Anerkennung von Margaret Atwoods umfangreichem lyrischem Werk auch hierzulande nicht im Wege steht.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Margaret Atwood: Die Tür. Gedichte.
Berlin Verlag, Berlin 2014.
285 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783827012210

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