Was genau ist Kindeswohl?
Ian McEwan porträtiert die Einsamkeit der Familienrichterin
Von Gertrud Nunner-Winkler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUnlängst hat der Soziologe Heinz Bude das ‚diskursive Ungeschick‘ seiner Zunftgenossen beklagt, die durch eine unverständliche Sprache ihre Wissenschaftlichkeit zu beweisen suchten. Dabei gelte es doch „die Ernsthaftigkeit der Wissenschaft mit der Präzision der Literatur zusammenbringen. Wir brauchen den Mut zur Erzählung. Wissenschaftler müssen Epen über Strukturen und Novellen über ‚unerhörte Begebenheiten‘ erzählen.“ Damit ließe sich im Umkehrschluss sagen: McEwan hat eine großartige sozialwissenschaftliche Abhandlung vorgelegt.
Es geht um ein aktuelles Thema. Mit der Verabschiedung der UN-Konvention der Kinderrechte haben die Menschenrechte eine erneut erweiterte Interpretation erfahren. Beispielsweise war Gleichheit schon in der französischen Revolution als zentrales Prinzip deklariert worden. Aber gleiches Wahlrecht galt zunächst nur für Männer mit Grundbesitz. Erst allmählich durften ärmere Männer, Juden, schließlich auch Frauen wählen. Heute wird sogar ein Wahlrecht für Kinder diskutiert. Die Konvention nun sichert Kindern umfassende Rechte zu – Überlebensrechte, Schutz- und Entwicklungsrechte, Partizipationsrechte. In Gesetzestexten wurde der Begriff ‚elterliche Gewalt‘ durch ‚elterliche Sorge‘ ersetzt. Und das Kindeswohl gilt als Leitlinie für familiengerichtliche Entscheidungen. McEwans Protagonistin begreift dies als „Meilenstein zivilisatorischen Fortschritts“. Allerdings ergeben sich auch Probleme. Frühere Regeln waren einfach und eindeutig: So bestimmte etwa im patriarchalen Familienmodell der Wille des Ehemanns und Vaters das Schicksal der Familienmitglieder. Dann gewann die Bindungstheorie Akzeptanz. Danach ist eine sichere Bindung an die erste Bezugsperson unentbehrlich für eine gute Entwicklung des Kindes. So wurde Kontinuität zum Leitziel erhoben und bei Scheidungen im Normalfall der Mutter das Kind zugesprochen. Das Kriterium ‚Kindeswohl‘ kontrastiert mit solch konkreten Regeln. Als abstraktes Prinzip verlangt es Einzelfallprüfung. Und damit wird dem Richter ein weiter Ermessenspielraum eröffnet. Hier setzt McEwans Roman an.
Detailliert und kenntnisreich schildert er, wie eine angesehene und erfolgreiche, beruflich ungewöhnlich engagierte und reflektierte Richterin in mehreren Kindeswohlstreitigkeiten ihr Urteil fällt. So bringt er alle nur erdenklichen Schwierigkeiten zur Sprache, die mit solchen Verfahren verknüpft sein können. Im Grunde geht es um das Problem der unzureichenden Bestimmtheit des Entscheidungskriteriums. Zweifellos gibt es klare Fälle: Bei grober Misshandlung, Vernachlässigung oder Ausbeutung ist der Sorgerechtsentzug unstrittig geboten. In den meisten Fällen aber sind die Urteile alles andere als zwingend. Sie basieren auf ungesicherten Folgeprognosen und differierenden Bewertungen. Bei jedem Einzelfall gilt es abzuschätzen, wie sich ein bestimmtes Kind in den möglichen Umgebungen entwickeln mag und dann abzuwägen, welche der unterschiedlichen Lebensformen vorzuziehen sei. McEwans Beispiel ist der Trennungskonflikt jüdischer Eltern. Die Mutter erstrebt für ihre Töchter eine offene liberale Erziehung, die auch künftige Karrierechancen eröffnet. Der eher orthodox gläubige Vater hätte lieber, dass sie in „der Geborgenheit einer vertrauten, strikten, aber liebevollen Umgebung“ eine klar umrissene Identität aufbauten und „ein glücklicheres und erfüllteres Leben führten als die Menschen in der säkularen Konsumgesellschaft da draußen“. Entscheidungen in solchen Konflikten beruhen – so McEwan – auf Werturteilen, „über die vernünftige Menschen unterschiedliche Meinungen haben können“. Es handelt sich nämlich um Fragen des guten Lebens, die in modernen Gesellschaften dem persönlichen Bereich zugerechnet und damit dem freien Handlungsspielraum des Einzelnen anheimgestellt werden. Das Gericht orientiert sich in diesen Fällen auch an der „gängigen Erziehungspraxis“ und der „Perspektive ‚verständiger Eltern‘“. Das birgt natürlich die Gefahr, dass den je herrschenden Wertvorstellungen große Bestimmungsmacht eingeräumt wird.
Noch problematischer allerdings sind Dilemmata, die sich aus konträren moralischen Überzeugungen ergeben. An die Stelle des Basiskonsenses, dass in Fragen des guten Lebens auch Wohlmeinende unterschiedliche Auffassungen vertreten können, tritt nun der Anspruch beider Seiten auf ausschließliche Wahrheit und allgemeine Verbindlichkeit. Dies geschieht häufig, wenn religiös und innerweltlich begründete Moralvorstellungen aufeinandertreffen. Das Problem ist schon in der Kinderrechtskonvention angelegt. Sie spricht dem Kind das Recht auf die Wahrung seiner kulturellen oder religiösen Identität zu. Damit reagierte die Konvention auf frühere Übergriffe. Bis zur Mitte des 20. Jahrhundert nämlich wurden – etwa in Kanada, Australien, der Schweiz – unehelichen Müttern oder nomadisch lebenden Eltern ihre Kinder weggenommen. Das Recht kann aber zuweilen mit der Pflicht des Staates kollidieren, das Kind „vor jeder Form körperlicher Schadenszufügung“ zu schützen und „im Geist […] der Toleranz, der Freiheit, der Gleichheit“ zu erziehen. Dies ist der Fall, wenn religiös begründete Forderungen den Menschenrechten widersprechen, etwa die (insbesondere weibliche) Beschneidung, die Tabuisierung von Homosexualität, das Verbot eines Religionswechsels, die Diskriminierung von Frauen, die Verweigerung medizinisch indizierter Eingriffe, die Erziehung von Kindern in Isolation von der größeren Gemeinschaft. Genau solche Dilemmata stehen im Zentrum von McEwans Roman. Um nur zwei zu nennen: Katholische Eltern siamesischer Zwillinge verweigern deren Trennung, die allein wenigstens ein Kind zu retten erlaubte: „Man durfte sich nicht in Gottes Willen einmischen und darum sollte Mark zusammen mit Matthew sterben“. Und: Adam, ein fast volljähriger einsichtsfähiger und damit potentiell entscheidungsberechtigter an Leukämie erkrankter Zeuge Jehovas verweigert die lebensrettende Bluttransfusion, „weil Gott uns gesagt hat, dass es unrecht ist“. Insbesondere an Adams Fall diskutiert McEwan alle nur denkbaren entscheidungsrelevanten Aspekte. Fakten: Wie groß sind die medizinischen Risiken der Transfusion und die Kosten ihrer Verweigerung? Rationalität und Autonomie von Adams Entscheidung: Inszeniert er bloß ein spannendes Drama? Weiß er um die bevorstehenden Todesqualen? Will er es nur den Eltern recht machen? Befürchtet er den Ausschluss aus der Gemeinschaft? Ist er zu stark in der abgekapselten Lebensweise einer Sekte befangen, die nicht Diskussion noch Widerspruch kennt? Religion: „Die auch Tröstungen bereithielt“, aber die Gläubigen gegen Argumente immunisiert – so etwa zeige die historisch zufällige Entstehung eines Dogmas allein, dass Gott seine Absichten nur nach und nach offenbart.
Zur Sprache kommen nicht nur fallbezogene Fragen sondern auch allgemeinere Überlegungen: Gerichte urteilen nach dem Gesetz, nicht nach moralischen Gesichtspunkten. Die Sachverhaltsaufklärung wird überwiegend von Sozialarbeitern durchgeführt und so das Verfahren stärker bürokratisiert. Gutachten können einander widersprechen. Fehlurteile kommen vor. Auch Berufungsgerichte können irren. Zuweilen folgen Urteile eher pragmatischen Erwägungen als dem Gerechtigkeitsempfinden. Es gibt unberechtigte verleumderische Klagen. Kinder sind häufig bloßer Spielball elterlicher Interessenkämpfe.
Anders als in wissenschaftlichen Berichten werden diese Erwägungen nicht systematisch abstrakt diskutiert. Sie tauchen beiläufig auf in Reflexionen der Richterin, in Anträgen, Verhören und Argumentationen der beteiligten Anwälte, in Erklärungen der Prozessteilnehmer, in ausführlichen Begründungen gefällter Urteile, in Kommentaren der Medien, in Gesprächen mit befreundeten Richtern, in Stellungsnahmen von Gutachtern. Doch der wesentliche Unterschied zu einer Abhandlung über Probleme des Kindeswohls ist die Perspektive, die McEwan gewählt hat – die subjektive Sicht der Richterin. Selbst in fast unlösbaren Dilemmata entscheidet sie zügig und klar, und stets begründet sie ihre Urteile stringent und stichhaltig. Aber das birgt auch Kosten. McEwan beschreibt das Leid, die Not, die Skrupel, die Zweifel, die psychischen Belastungen, die die Richterin erfährt. Immer wieder grübelt sie etwa über ihr Votum für eine Trennung der siamesischen Zwillinge: „Sie war es, die ein Kind aus der Welt gesandt hatte, die den Jungen mit 34 elegant formulierten Seiten aus dem Dasein argumentiert hatte“. Stimmungen und Gefühle überwältigen sie. Der Fall der Zwillinge hatte sie „eine Zeitlang […] innerlich stumpf werden lassen“. Bei Adams Fall erlebt sie, „dass die Absurdität und Sinnlosigkeit ihrer Rolle […] sie vorübergehend lähmte“. Solche Erfahrungen strahlen auch auf ihr Privatleben aus – so sehr ist sie mit ihrer beruflichen Tätigkeit identifiziert, so schwer trägt sie an der Verantwortung, die diese Rolle ihr aufbürdet. Diese Verstrickung von professionellem und privatem Leben bildet den Rahmen des Romans.
Um auf den Anfang zurückzukommen: Ja, Bude hat recht: Es wäre schön, wenn wir Soziologen auch so gut schreiben könnten wie McEwan. Und nein – Bude hat nicht recht. Es geht nicht nur um die Sprachgewalt von Autoren: Es gibt auch Unterschiede in der Sache. Aufgabe der Soziologen ist es, gesellschaftliche Verhältnisse so realitätsgerecht wie möglich darzustellen. Schriftsteller können zuspitzen, verdichten, dramatisieren. Es ist gut, wenn die Arbeitsteilung funktioniert und Sozialwissenschaftler ihre Daten solide erheben, die Befunde statistisch absichern und die Interpretation sorgfältig validieren. Soweit allerdings Schriftsteller gründlich recherchieren, ist der Leser zweifellos gut beraten, trockene Forschungsberichte beiseite zu lassen. Probleme bei der Bestimmung des Kindeswohls etwa wird er sicher besser verstehen, wenn er zu dem genau und überzeugend argumentierenden, informativen, hoch reflektierten, fesselnden und obendrein auch noch emotional bewegenden Roman von McEwan greift.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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