Gefühle als Organisationsprinzip

Warum der Roman noch immer die gesellschaftlich wichtigste Kunstform ist: Über Ernst-Wilhelm Händlers Essay „Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman hat Konkurrenz bekommen – zumindest im Feuilleton. Denn wenn Kritiker ihre Lieblingsserie hypen wollen, greifen sie meist zu literarischen Vergleichen. Für TV-Serien wie „The Wire“, „Breaking Bad“ oder „Mad Man“ werden dann Namen wie Honoré de Balzac, Fjodor Dostojewski oder Lew Tolstoi ins Feld geführt – sofern das amerikanische Erzählfernsehen nicht gleich ganz zum Erben des Romans erklärt wird. Gegenwartsautoren sind über diese Entwicklung naturgemäß wenig erfreut, wäre der Roman dann ja eine Kunstform von gestern. Daher hat in den USA zum Beispiel Jonathan Franzen die Überlegenheit des Romans auch im HBO-Zeitalter betont – und hierzulande nun Ernst-Wilhelm Händler.

Für Händler, der als der letzte Poeta doctus der deutschen Gegenwartsliteratur gilt, werden TV-Serien primär durch den Dialog charakterisiert, während die Lektüre eines Romans Fragen bezüglich der Erzählerinstanz initiiere wie: „wer spricht eigentlich?, was für eine Stimme ist das?, kann ich die Stimmen auseinanderhalten?“ Wer die anspruchsvollen Romanwerke Händlers kennt, weiß, wie gern dieser Autor mit eben solchen Möglichkeiten spielt. Man denke nur an den Stimmenchor in seinem Roman „Wenn wir sterben“. Dennoch dürfte sein Argument Serienfans kaum beeindrucken: Zeitlich unbestimmte Figurenstimmen findet man heute sogar schon in Serien aus der zweiten Reihe wie, sagen wir, „Grey’s Anatomy“ – von den komplexen Protagonisten oder verschachtelten Erzählmodi wie zuletzt in der HBO-Serie „True Detective“ ganz zu schweigen.

Tatsächlich gehört das, was Händler über die Unterschiede von Roman und Fernsehserie zu sagen hat, zu den schwächeren Passagen seines neuen Buches. Dieses will nicht weniger als den Nachweis erbringen, warum der Roman (und damit die Literatur insgesamt) noch immer die gesellschaftlich wichtigste Kunstform darstellt – und voraussichtlich auch bleiben wird. Das macht schon der selbstbewusste Titel deutlich: „Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument“ –  eine Anspielung auf die erste deutsche Romantheorie überhaupt, die von Christian Friedrich von Blanckenburg aus dem Jahr 1774. Wie einst Blanckenburg ist auch Händler davon überzeugt, dass der Roman vor allem dazu da ist, Innensichten von Individuen zu vermitteln – eine gerade für die moderne Gesellschaft eminent wichtige Funktion. Film und Fernsehserien stellen nach Händler dazu keine Alternative dar.

Der Leitgedanke des 62-jährigen Romanciers ist dabei die Luhmannsche Unterscheidung von System und Umwelt. Und gerade letztere, die Umwelt des Romans, kartografiert Händler mit einer überraschenden Gründlichkeit: Deshalb wird nicht nur der Leser behandelt oder die Frage, ob es so etwas wie eine „richtige“ Interpretation gibt. Vielmehr widmet sich Händler in 28 hochkomprimierten Kapiteln ebenso Sprache und Denken, Wahrnehmung und Ich-Bewusstsein oder dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das alles stets in der Auseinandersetzung mit den einschlägigen Denkern und Theorien: von Martin Heidegger bis zu den Neurowissenschaften. Das ist überaus anregend zu lesen, selbst da, wo es zu eher abseitig anmutenden Fragen führt wie etwa, ob eines Tages Roboter Romane lesen oder gar schreiben werden. Gewöhnen muss man sich jedoch daran, dass Händler keine Namen nennt, sondern mittels Umschreibungen eine Art Anti-Namedropping für Insider praktiziert. Dabei sind die meisten Chiffren leicht zu entschlüsseln: Der „Alleszermalmer“ steht natürlich für Immanuel Kant und „Mathematiker ohne Eigenschaften“ für Robert Musil. In anderen Fällen dürften produktive Missverständnisse vorprogrammiert sein – denn darüber, wer der „garantiert belesenste aller internationalen Literaturprofessoren der Gegenwart“ ist, ließe sich wohl trefflich streiten.

Viel Raum in Händlers Essay nimmt die Abgrenzung des Romans von Textsorten wie Wissenschaftsprosa, Protokoll oder Manual ein. Dabei zeigt sich, wie zentral für den Roman der Rückgriff auf Gefühle ist, die hier sogar zum Organisationsprinzip werden – wie bei Marcel Proust, in dessen Romanwerk das Thema Eifersucht die Struktur bestimme, im Unterschied etwa zu einer empirischen Untersuchung, die sich inhaltlich der Eifersucht widme.

Die Lektüre eines Romans sei daher mehr als bloße Unterhaltung, sie habe lebenspraktische Folgen: Denn wer Proust gelesen hat, so Händler, wird in seinem Leben mit Eifersucht künftig anders umgehen. Deshalb seien Romane so etwas wie emotionale „Trainingsprogramme“ für den Einzelnen. Und indem sie fiktive Lebenssituationen durchspielen, eröffnen sie dem Leser immer auch neue „Handlungsmöglichkeiten“, können also buchstäblich unser Leben ändern. 

So einleuchtend das alles ist, so unklar bleibt, warum dies im Medium der Bilder nicht ebenso möglich sein soll. Oder warum Händler in Film, Serie und Roman Konkurrenten sieht – und nicht vielmehr alternative „Trainingsprogramme“, zwischen denen ja seit jeher produktive Austauschprozesse stattfinden. Zumal die wahre Konkurrenz für den Roman woanders liegen dürfte: nämlich in den allgegenwärtigen mobilen Displays mit ihren zeitfressenden „Apps“ und „Blink-Feeds“, die den „User“ zerstreuen und konzentrierte Lektüre immer mehr als Zumutung empfinden lassen.

Titelbild

Ernst-Wilhelm Händler: Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
284 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100021991

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