Schützt den Schlaf!

„24/7“: Jonathan Crary wütet gegen den atemlosen Spätkapitalismus und die multimediale Zerstörung des Sozialen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwa ein Drittel seines Lebens verbringt der Mensch im Schlaf. Eine Verschwendung von Lebenszeit? „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“, hat Rainer Werner Fassbinder schon vor Jahrzehnten das Credo einer atemlosen Moderne auf den Punkt gebracht. Heute schlucken immer mehr Menschen synthetische Muntermacher, um länger durchzuhalten, während andere gerne schlafen würden, wenn sie nur könnten, da das tagsüber in Gang gesetzte Gedanken- und Bilderkarussell auch im Dunkeln nicht mehr aufhören will, sich zu drehen.

Es steht nicht gut um den Schlaf, lautet die Diagnose des Kunsthistorikers Jonathan Crary: Die Schlafdauer des Durchschnittsamerikaners nimmt kontinuierlich ab, melden Statistiker, und Mediziner berichten von Netzsüchtigen, die mehrmals nachts aufstehen, um ihre Mails zu checken; Schlaf ist für sie längst zu einer Art „sleep mode“ verkümmert, einem lästigen Bereitschaftsmodus. Zugleich träumen Militärs vom schlaflosen Supersoldaten oder foltern Terrorverdächtige mit Schlafentzug. Und Ingenieure entwickeln Zukunftsprojekte, bei denen mittels Spiegeln in stationärer Umlaufbahn das Sonnenlicht so reflektiert werden soll, dass bestimmte Areale auf der Erdoberfläche dauerhaft erleuchtet bleiben: 24 Stunden lang, sieben Tage die Woche.

„24/7“, so lautet auch der Titel eines Hundert-Seiten-Essays, mit dem Jonathan Crary nicht nur ein Plädoyer für den ausgiebigen Schlummer vorlegt, sondern zugleich eine Analyse und Abrechnung mit der spätkapitalistischen Gegenwart mit all ihren die Aufmerksamkeit der Konsumenten erregenden Gadgets. Dabei sieht Crary ausgerechnet im Schlaf das „Haupthindernis“, das dem Kapitalismus vor seinem endgültigen Sieg noch im Weg steht. Sei er doch das letzte der menschlichen Bedürfnisse, das die Industrie noch nicht nach Belieben auszubeuten gelernt hat, im Unterschied zu Hunger, Durst oder Sex. Am Ende stünde die Dystopie einer strahlenden 24/7-Welt. In ihr wäre alles jederzeit verfügbar und erreichbar, Waren, Informationen und Dienstleistungen ebenso wie Menschen. Nur dass es nach der Abschaffung von Pausen auch keine Veränderungen mehr gäbe – sondern nur noch ewige Stagnation.

Von einem „Haupthindernis“ ist es freilich nur noch ein kleiner Schritt, um den Schlaf gleich zur letzten Alternative zum unersättlichen westlichen Wirtschaftssystem überhaupt zu stilisieren. Zu dieser grandiosen Überschätzung gelangt Crary, weil für ihn der Schlaf mit seiner Nutzlosigkeit und Passivität, mit seinem Bestehen auf natürlichen Kreisläufen und Rhythmen das ganz Andere zum unersättlichen zweckrational-ökonomischen Denken repräsentiert: „Der Schlaf ist die einzig verbleibende Grenze, die einzig dauerhafte Naturbedingung, die der Kapitalismus nicht beseitigen kann.“ Auch sei der Schlaf das letzte Refugium einer menschlicheren, natürlicheren Welt: Denn sich schlafen zu legen bedeute, sich vertrauensvoll einem ungeschützt-exponierten Zustand zu überlassen, und stelle somit eine der wenigen Erfahrungen dar, „in der wir uns der Fürsorge anderer überlassen“.

So ganz vermag Crarys Argumentation allerdings nicht zu überzeugen: Lässt sich der Schlaf als „einzig dauerhafte Naturbedingung“ tatsächlich nicht beseitigen, warum muss man sich dann überhaupt um ihn sorgen? Und gibt es nicht längst eine boomende Schlafindustrie, die mit immer neuen Produkten, von viskoelastischen Matratzen bis zu Naturgeräusch-Weckern, den Konsumenten beglückt? Es ist die Einseitigkeit von Crarys Kapitalismuskritik, die ebenso sehr beeindruckt, wie zum Widerspruch reizt. Dabei läuft der Kunsthistoriker immer dann zur Hochform auf, wenn seine Reflexionen an frühere Schriften anknüpfen, vor allem an sein Hauptwerk „Aufmerksamkeit“ (2002) über die Veränderungen und Formungen der Wahrnehmung in der Moderne.

So sei die virtuelle Welt drauf und dran, der Realität in Sachen Attraktivität den Rang abzulaufen, glaubt Crary, und analysiert subtil-phänomenologisch den scheinbar banalen Moment, wenn man etwa den Fernseher ausschaltet – und sich leer und leicht benommen wieder zurück in der blassen Wirklichkeit wiederfindet. Auch habe schon die Einführung des Fernsehens in den 1950er-Jahren dazu geführt, dass die frühere Vielfalt an abendlichen Beschäftigungen auf das meist sitzend ausgeführte Glotzen auf die Mattscheibe im Familienkreis reduziert wurde.

Ähnlich würden heute die allgegenwärtig gewordenen Displaygeräte als Aufmerksamkeitsattraktoren zu einer Verarmung und Deformierung sozialer Verhaltensweisen führen. Das wird jeder seufzend bestätigen, der schon einmal erlebt hat, wie noch so intime Gespräche heute jederzeit für einen Anruf oder eine SMS unterbrochen werden, sofern das Gegenüber nicht ohnehin ständig nebenbei auf sein Display schielt. Wie sehr aber Internet und soziale Netzwerke zugleich zu aufregenden neuen sozialen Formen geführt haben, wird in Crarys Darstellung völlig ignoriert: Warum zum Beispiel soll eine Gruppe von Schülern, die sich heute per „TeamSpeak“-Kommunikation nicht nur durch Egoshooterwelten schießt, sondern danach auch gemeinsam ihre Hausaufgaben löst, keine der von Crary vermissten „lebendigen Gemeinschaften“ verkörpern? Und warum erlauben etwa Flash-Mobs, die immer wieder konstruktiv urbane Alltagsszenerien irritieren, keine „echten Begegnungen“ mehr?

Nun kennt Crary weder das eine, noch das andere, aber er kennt das heute „sich weltweit ausbreitende Bloggen“ – und hält es in seinem technikfeindlichen Furor für eine Form von „Massenautismus“, einen „Triumph eines einseitigen Selbstgesprächs“, ausgerechnet, möchte man anmerken: Sind Blogeinträge schließlich kommentierbar  und entzünden sich gerade in den Kommentarspalten des Netzes oft die spannendsten Diskussionen. Das Schreiben von Büchern dagegen hat schon Robert Musil einst als eine Art intellektuelle Masturbation bezeichnet.

Titelbild

Jonathan Crary: 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Laugstien.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014.
108 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783803136534

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