Lange Stunden eines Rests von Leben

Linda Benedikt macht den unvermeidlichen Schmerz über das eigene Leben zu fesselnder Prosa

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis zum Ende ereignet sich eigentlich nur das: Dorothy blickt auf den Lauf ihres Lebens zurück. Das klingt kaum nach Besonderem. Vielmehr ist es eine Selbstverständlichkeit, nach der manche Menschen ab einem bestimmten Moment ihres Lebens unweigerlich streben und vor der andere ebenso unweigerlich fliehen. Die Münchner Autorin Linda Benedikt hat diesem Moment der Wahrheit mit „Der Rest ihres Lebens“ einen Roman gewidmet.

Weder flieht Dorothy den Augenblick des Erkennens, noch sucht sie ihn. Er widerfährt ihr. Nicht nur mit ihrem eigenen Schicksal hadert Dorothy dann, sondern auch mit der Literatur, die sie seit Jugendzeiten durchs Leben begleitet: „Die Figur hat einen Sinn, erfüllt ihren Zweck. Aber was ist mit dem lebenden Menschen?“ Der Literatur hat Dorothy nicht nur ein Studium gewidmet, sondern auch einen Lebenstraum. Als junge Mutter schrieb sie selbst noch, bis sie den täglichen Bitten ihres Mannes und der Sorge um die Kinder schließlich allen Raum überließ. Literatur und Wirklichkeit wollen für Dorothy nun aber nicht mehr zusammenpassen. Seit Jahren folgt Dorothy ohnehin nur noch automatisch den Buchempfehlungen im „Guardian“ und „Observer“. Es ist eines ihrer Rituale wie der Kauf der Antifaltencreme in Londons City Centre, an deren Wirkung sie ebenfalls nicht glaubt. Keine Lektüre geht Dorothy mehr nahe. Denn der Mensch, der im wirklichen Leben steht, muss anderes ertragen als die Figur im Roman: „Wie soll er sie überstehen, die klebrigen Minuten und die noch zäheren, ledernen Sekunden zwischen den einzelnen Gedanken, den Gefühlen?“ Literatur, so erkennt Dorothy, spart die „unerträglichen Details des Lebens“ aus, die unattraktiven Klogänge, Pickel, Ehezänkereien. In den Lücken zwischen den Absätzen liegt dieser „Alltag ohne jede Größe“ verborgen. Doch die Erzählung, deren Hauptfigur Dorothy ist, nähert sich gerade jenen Leerstellen an.

Gleichförmig langsam gehen die Tage in Londons Sommerhitze dahin. Dorothy füllt sie mit ihren über die Jahre perfektionierten Routinen: Sie kocht, wäscht ab, sieht fern und geht zu Bett. Zeit, so scheint es, bleibt täglich dennoch viel übrig. Seit über fünf Jahren lebt Dorothy allein im Süden Londons. Ihr Mann Edward hatte ihr bei seinem Auszug nicht nur aus freien Stücken das Haus überschrieben, sondern auch einen monatlichen Unterhalt zugestanden. Dorothys Sohn Anthony lebt äußerlich geordnet mit Frau und Kindern nahe London, während ihre Tochter Helen mutig ihren Traum der Schauspielerei in New York verfolgt. Das Leben ihrer erwachsenen Kinder bleibt Dorothy jedoch innerlich so fern wie die Romane auf ihrem Nachttisch: „Wenn ich zu mir selbst ganz ehrlich war, dann waren meine beiden Kinder irgendwann zu Menschen geworden, die ich nicht verstand. Mein Interesse an ihnen blieb ein rein mütterliches, es wurde kein menschliches daraus.“ Bis heute schmerzt Dorothy leise Edwards Erklärung dafür, warum er sie verlassen hat: „Dee,“ hatte er an einem gewöhnlichen Abend verkündet, „ich mag dich nicht mehr“. Kein Konflikt, keine jüngere Geliebte, nur die Botschaft, nicht mehr geliebt zu werden.

Einsamkeit und Bitterkeit sprechen unwillkürlich aus Dorothys Selbstbekundungen, sie haben sich tief in ihre Gesten, Handgriffe und Handlungen eingegraben, in ein Essen ohne Genuss und ein Schlafen ohne Trost. Zuneigung sitzt bekanntlich auch in einem enttäuschten Herzen, doch es braucht besondere Situationen oder neue Menschen, damit sie sich regen kann. Liebevoll blickt Dorothy auf ihre alte Freundin Anne: nicht während Annes großer, gelungener Party, sondern als Anne ihr am nächsten Tag ungeplant weinend gegenüber sitzt. Genauso unerwartet tritt Martha in Dorothys Leben. Martha, blühend, kraftvoll und hochschwanger, bereitet Dorothy Limonade zu, lädt sie zur Einweihungsparty ein, erzählt freimütig aus ihrem Leben, obwohl sie eigentlich nur ruhig und unauffällig die Einliegerwohnung im Erdgeschoss mieten sollte. Marthas österreichischer Akzent weckt in Dorothy den Gedanken an die eigene Herkunft aus Bayern und Marthas Mann Aidan die Ahnung eines einstmals vertrauten Menschen. Vielleicht bedarf es nur dieser wenigen Reize, damit verdrängte Erinnerungen, Gefühle und das Bewusstsein über das eigene Leben in Dorothy allmählich Raum greifen können.

Linda Benedikt erzählt geradlinig und schonungslos die Geschichte einer Selbsterkenntnis: Eine Frau versteht plötzlich, wieso ihr Leben so und nicht anders verlaufen ist. Bei anderen Autoren mag solch ein Mechanismus einer abwechslungsreicheren Handlung zugrunde liegen, als mehr oder minder unausgesprochene Bedeutung. Linda Benedikt hingegen macht gerade solche allgemeinen innermenschlichen Prozesse zum ausdrücklichen Inhalt ihrer Texte. Nicht nur thematisch schließt sie damit an ihr Debüt von 2013, die Erzählung „Eine kurze Geschichte vom Sterben“, an. Darin berichtet eine Tochter im Rückblick von den letzten sieben Tagen mit ihrer krebskranken Mutter und legt das Paradox von Trivialität und Tragik des Sterbens bloß. Auch stilistisch folgt „Der Rest ihres Lebens“ dem Vorgängertext: Benedikt schreibt klar, frei von Anekdoten, ohne Künsteleien. Zur Sprache kommt das Wesentliche. Manchmal wirkt das beinahe so, als wolle Benedikt den Eindruck jeder Literarizität vermeiden. Nach Jahren als freie Journalistin mag das ihr persönlicher Weg in die Welt der Literatur hinein sein. Vielleicht gelingt es ihr auch nur dank dieser Unumwundenheit, ihr Anliegen zu Papier zu bringen: den Moment, in dem ein Mensch auf sich selbst zurückgeworfen ist, in dem kein Platz mehr für Schönfärbereien bleibt.

Als alles Verdrängte und bisher Übersehene in Dorothy seinen Platz erobert hat, äußert sich dieser Moment schlicht so: „Ich wünschte, ich könnte heraus aus meinem Körper und hinein in ein anderes Ich, in ein anderes Leben.“ Eine Sehnsucht, trivial, verständlich, unerfüllbar. Irgendwann, bei einer ihrer zeitfüllenden Räumungsaktionen, fällt Dorothys Blick auf einen Erzählband von Alice Munro. Munros Weg, wäre es das vielleicht gewesen: weiter schreiben, auch als Familienmutter? So weit möchte Dorothy in dieser Minute noch nicht denken.

Linda Benedikt gibt dem unspektakulären Schicksal ihrer Hauptfigur einen eindringlichen Ausdruck. Dorothys Gram resultiert aus einem scheinbaren Widerspruch: Trotz stundenreicher Tage verfügt sie nur noch über einen bescheidenen Rest ihres Lebens. Benedikts Roman berührt und bannt. Er macht aber auch ein wenig gespannt – darauf, wie Benedikts eigener literarischer Weg weiter verlaufen wird, ob geradlinig oder mit Wendungen.

Titelbild

Linda Benedikt: Der Rest ihres Lebens. Roman.
Arche Verlag, Zürich 2015.
221 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783716027325

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