Imaginierte Welten

Vadim Oswalt erschließt zweieinhalb Jahrtausende der Kartographie

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kartierung. Da denkt man zunächst wohl vor allem an entbehrungsreiche Fahrten entdeckungsfreudiger Gelehrter rund um den Globus, im Bestreben, die Welt räumlich zu erfassen, sei es aus purem Wissensdrang oder ökonomischen Gründen. Diese räumliche Aufnahme scheint im frühen 21. Jahrhundert soweit geklärt, über und unter Wasser ist jeder Quadratmeter in irgendeiner Form registriert, und jeder Laie kann per Satellitenbild in seinen Vorgarten blicken. Auch in der Wissenschaft erfreuen sich Kartierungen großen Interesses, freilich unter vermeintlich zeitgemäßerem Vokabular: kaum eine Disziplin, deren Vertreterinnen und Vertreter nicht in irgendein mapping-Projekt involviert wären. So bemüht dieser, man möchte sagen: mapping turn bisweilen auch erscheint, so ist das große Plus doch offensichtlich: Kartierung jeglicher Art verschafft Überblick, und aus dieser Vogelperspektive erschließen sich potenzielle Relationen, Netzwerke, die vorher unsichtbar blieben. Es mag an der Kapazität digitaler Datenbanken liegen, dass solches Netzwerken aktuell immense Forschungsenergien bündelt. Die grundsätzliche Einsicht in diese Leistungsfähigkeit der Karte ist selbstredend viel älter. Man mag sogar sagen: Durch Jahrtausende, in denen die Erde auf langwierigen Reisen oder mittels allein geistiger Höhenflüge entdeckt wurde, kam der schließlich fixierten Fassung von Welt wohl ein noch größerer Stellenwert zu als heute. Zu Recht können wir bei erhaltenen Weltkarten von Schlüsseldokumenten der Globalgeschichte sprechen.

Ihnen nähert sich der Gießener Historiker Vadim Oswalt (2014 zum Herder Chair ernannt) in zehn prominenten Beispielen auf rund 200 Seiten an, regelmäßig durch kleine Abbildungen in Graustufen und einige Literaturangaben ergänzt. Weniger steht dabei Spezialwissen im Fokus, vielmehr geht es um einen ersten Über- und Einblick, nicht nur in die jeweils vorgestellte Karte, sondern vor allem in den Kontext: Karten als Erinnerungsorte explizieren heute nicht allein ein gezielt gespeichertes Wissen, sondern geben Einsicht in hintergründig wirksame Intentionen, schließlich Mentalitäten. In populärem Stil führt Oswalt anschaulich in diesen Themenkomplex ein, verknüpft er Weltkarten mit Weltbildern, mit besonderem Gewicht auf politischen Motivationen hinter Kartierungen, bis in jüngste Zeit. Die gewählten Beispiele und die an ihnen erörterten Fragen relativieren vor allem jenen Eurozentrismus – und damit die Rolle des Christentums –, der die Mediävistik weitreichend dominiert: Auch wenn ‚das Mittelalter‘ eine wesentlich auf Europa beschränkte Idee sein mag, zeigt Oswalt doch auf, wie ergiebig der Blick über bekannte mittelalterliche Karten unserer Breiten hinaus sein kann.

Interessant ist auch das abschließende Kapitel, ein Ausblick auf jene einleitend notierte digitale Welt. Weder das Ende der ‚klassischen‘ Weltkarte, noch das Ende des Kartographen sieht Oswalt damit eingeläutet. Im Gegenteil: Wo Karten von Computerspezialisten nach Design-Gesichtspunkten programmiert werden und big data den Nutzer rasch an Grenzen der Aufnahmefähigkeit bringen, seien Fachleute, die zur Grenzüberschreitung, zur Interpretation und Reflexion, fähig sind, gefragter denn je. Bedenkenswert ist vor allem Oswalts Einwurf, dass auch virtuelle Karten, so neutral sie sich oft präsentieren wollen, „von Menschen geschaffen und somit entlang bestimmter Vorstellungsmuster und Interessen entwickelt wurden“. Google Earth, als prominentes Beispiel, stelle gar „die Rückkehr zu konventionalisierten europäischen Sehgewohnheiten“ dar. Diese Entwicklung und die Fülle neuer kartographischer Anwendungen zu verfolgen und zu bewerten, diese Aufgabe erfordert weiterhin einen wissenschaftlichen Ausgangspunkt und Hintergrund. Und damit wird wohl auch die Geschichte der Kartographie, mit all ihren kulturellen Errungenschaften, weiter relevant bleiben.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Vadim Oswalt: Weltkarten – Weltbilder. Zehn Schlüsseldokumente der Globalgeschichte.
Reclam Verlag, Stuttgart 2015.
224 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783150203828

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