Die Zeit der wilden Jahre

Cristina Perincioli hat eine etwas zu subjektive Geschichte der Berliner Frauenbewegung geschrieben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Berlin war eines der wichtigsten Zentren der Neuen Frauenbewegung in Deutschland. Zwar flog die berühmte Tomate 1967 nicht in der damals noch geteilten Stadt, sondern in der Hessenmetropole Frankfurt. Jedoch waren Protagonistinnen der Aktion wie Helke Sander, die auf der Delegierten-Tagung des SDS die von den das Podium beherrschenden Genossen übergangene Rede gehaltenen hatte, und Sigrid Rüger, die den Herren daraufhin die Tomaten entgegenschleuderte, von der Spree an den Main gereist und gründeten wenig später mit einigen Gleichgesinnten in Berlin den Aktionsrat zur Befreiung der Frau.

Cristina Perincioli rühmt unter dem etwas überschwänglichen Titel „Berlin wird feministisch“ die örtliche Frauenbewegung als „das Beste, was von der 68er Bewegung übrig blieb“. Sie selbst war eine der damaligen Protagonistinnen. 1968 war die gebürtige Bernerin aus der Schweiz nach Berlin gekommen, um an der Deutschen Film- und Fernsehakademie zu studieren. Zwar war der prominente Tomatenflug zu diesem Zeitpunkt noch kein Jahr her, doch rechnet sie sich nicht etwa der Generation von Alice Schwarzer, Helke Sander und Frigga Haug zu, sondern zu den „wesentlich jüngeren“ der „nächsten Generation“. Dabei beträgt der Altersunterschied zwischen ihr und den beiden letzteren keine zehn Jahre.

In den frühen 1970er-Jahren zählte sich Perincioli zu den Anarchistinnen und arbeitete an dem Szene-Blatt Agit 883 mit. 1972 gründete sie gemeinsam mit anderen die Lesbengruppe in der „Homosexuellen Aktion Westberlin“, im Folgejahr das Frauenzentrum und die erste Frauenmediengruppe, 1977 schließlich den ersten Notruf für vergewaltigte Frauen in Kontinentaleuropa. Sie hat also erlebt, wovon sie schreibt.

Ihre Geschichte der Berliner Frauenbewegung gliedert sich in zwei Teile: einen „biographisch-historischen“, der „die Zeit vom Aktionsrat 1968 bis zur Gründung des Frauenzentrums Berlin 1973“ nachvollzieht, und einen zweiten, der „Dokumente und Reflexionen“ aus und zu eben diesen Jahren enthält. Dankenswerterweise ist zudem ein Register angehängt.

Für den ersten Teil hat die Autorin „in den 1990er Jahren 27 Berliner Aktivistinnen der Gründungszeit“ interviewt, „um nicht nur meine eigene Sichtweise wiederzugeben“, unter ihnen etwa die feministische Filmemacherin Helke Sander und die Marxistin Frigga Haug. Allerdings ist festzuhalten, dass der vorliegende Band dennoch sehr – vielleicht allzu sehr –ihre eigene Wahrnehmung wiederspiegelt. Selbst der Dokumententeil enthält nicht etwa vollständige Dokumente, sondern längere Zitate, die Perincioli ausführlich – und nicht selten recht subjektiv – kommentiert und interpretiert. Insbesondere im ersten Teil fließt zudem gelegentlich Anekdotisches ein. So etwa, wenn sie sich an „einen Anwaltsbrief“ erinnert, „in dem 1970 „als Scheidungsgrund genannt wurde, dass Solanas Manifest auf dem Nachtisch [sic] der angeklagten Ehefrau lag“. Bei dem von ihr genannten Manifest handelt es sich um das berühmte Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer, dessen Autorin Valerie Solanas bekanntlich auf Andy Warhol schoss. Weniger bekannt ist hingegen noch immer, dass sie keineswegs die erste Feministin war, welche die Ausrottung der Männer befürwortete. Die lebte bereits zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende: Gemeint ist die leider nahezu vergessene Radikalfeministin Helene Druskowitz.

Doch zurück zu Perinciolis Geschichte der Berliner Frauenbewegung. Die Autorin grenzt die feministische Bewegung (und sich selbst) nachdrücklich von den damaligen „sozialistischen Frauengruppen“ ab, was sehr gut nachvollziehbar ist. Trat Frigga Haug als prominente Sozialistin in den 1970er-Jahren doch zielsicher in die antifeministischen Fußstapfen, die Clara Zetkin einige Jahrzehnte zuvor hinterlassen hatte. Beide verachteten die ‚bürgerliche Frauenbewegung‘, da sie sich mit ihrem Kampf gegen die Unterdrückung der Frau nur auf einem vermeintlichen Nebenschauplatz der grundlegenden Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus bewegten. Immerhin aber findet sich in dem vorliegenden Buch eine kritische Bemerkung Haugs über ihre wirklich unsägliche „Verteidigung der Frauenbewegung gegen den Feminismus“ aus dem Jahr 1973. Gegenüber der Autorin bezeichnet sie in den 1990er-Jahren ihre frühere Schrift als „unglaublichen Text“ und kann nicht mehr verstehen, „wie ich da über die Leute herzog, die etwas mit Sprache im Sinn haben und sich mit der Produktion von Bedeutung aufhalten! Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, wie diese Gehirnwindungen in mich hineingekommen waren.“

Heftiger noch als Perinciolis Kritik an den Sozialistinnen fällt diejenige an ihrer feministischen Mitstreiterin Helke Sander aus, deren Politik und Person sie in einem ausgesprochen negativen Licht erscheinen lässt. So bezichtigt sie Sander etwa einer „unsinnigen Intoleranz“. Mit ihrer „Art, andere Ansätze niederzumachen“, sei Sander „dem damals gängigen Denkmuster“ gefolgt, „dass es nur einen richtigen Weg gäbe, und würde dieser verfehlt, verpasse man die Revolution“. Die Berliner Frauengruppe Brot und Rosen, deren „Kopf“ Sander war, sei demzufolge zwar „effektiv“, aber eben auch „elitär“ gewesen. Manchmal gerät der Autorin ihre Kritik allzu offensichtlich stilisierend. So etwa, wenn sie erzählt, wie Helke Sander, damals eine „Autorität in Frauenfragen“, sie „auf einem Sofa liegend“ empfangen hat, als sie bei der prominenten Feministin vorstellig wurde, um sie um ihre Meinung zu ihrem „Projekt ‚Schwulenfilm‘“ zu bitten. Die von der Erinnerung Perinciolis auf ein Luxusmöbel gelegte Sander habe das Filmprojekt als „luxurierend“ abgelehnt und ihr empfohlen, doch lieber erst einmal ein „Buch über die Frauenpolitik der SPD im letzten Jahrhundert“ zu lesen. Gegenüber Sander kommt sogar Frigga Haug besser weg, denn die Marxistin „entwaffnet mit Selbstkritik und Selbstironie“.

Gegenüber anderen Büchern zur Geschichte der Neuen Frauenbewegung in Deutschland – die Autorin kritisiert hier insbesondere die mehrfach aufgelegte und in einer Lizenzausgabe selbst von der Bundeszentrale für Politische Bildung herausgegebene „Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland“ von Rosemarie Nave-Herz – unterstreicht Perincioli sicher nicht zu Unrecht die Bedeutung der Lesben, die ihr zufolge „den eigentlichen Motor der autonomen Frauenbewegung bildeten“. Dabei betont sie vor allem die anfänglichen „Synergien zwischen Lesben- und Frauenbewegung“, kritisiert jedoch auch die stark separatistischen Tendenzen ersterer, die schließlich in der Parole „Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus die Praxis“ kulminierten. Es fällt ins Auge, dass Perincioli –  wie jüngst bereits Ulrike Heider – den damals in linken Kreisen so verachteten Aufklärungsfilmen von Oswald Kolle eine „befreiendere“ Wirkung zuschreibt als den zu dieser Zeit gerne in Raubdrucken vertriebenen Werken des kommunistischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich, der bei Frauen nur den vaginalen Orgasmus gelten ließ, dessen ‚einzig richtigen Verlauf‘ er in einem Diagramm veranschaulichte. Bei Kolle hingegen war „keine Stellung richtig oder falsch.“

Positiv hervorzuheben ist, dass die Autorin das Spektrum der feministischen Aktivitäten über die allbekannte Abtreibungskampagne hinaus vorstellt und etwa die Knast- und die Mediengruppe im Berliner Frauenzentrum erwähnt. Ausführlich widmet sie sich auch dem Prozess gegen das lesbische Paar Marion Ihns und Judy Andersen, die den Mord an dem gewalttätigen Ehemann von Ihns in Auftrag gegeben hatten. Die Medien, allen voran die Bildzeitung, nutzten ihn 1973 weidlich, um zur „Hexenjagd“ gegen die lesbische Liebe zu blasen.

Klischeehaft mutet zuweilen die Beschreibung der Frauenverachtung an, in der sich die Herren Genossen damals gefielen. Aber vermutlich war es tatsächlich genau so, wie Perincioli sich erinnert. Auch ist es keineswegs übertrieben, dass „im Nachhall“ der Studierendenbewegung „der größte Teil der Linken einer feministischen Politik extrem feindlich gegenüberstand“. Wohl gemerkt „der Linken“, nicht nur der linken Männer.

Bleibt Perinciolis Geschichte der Berliner Frauenbewegung letztlich insgesamt auch sehr der Biographie und den persönlichen Erinnerungen und Auffassungen ihrer Autorin verhaftet – Ereignisse, Kampagnen und Entwicklungen, an denen sie nicht beteiligt war, bleiben im ersten Teil weitgehend ausgeblendet –, so stellt ihr Buch doch einen wichtigen Beitrag zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der wilden Anfangsjahre der Bewegung dar, wobei es Perincioli insbesondere gelingt, Atmosphärisches ausgesprochen authentisch zu vermitteln, mag auch manches Urteil allzu sehr von persönlicher Antipathie geprägt sein.

Kleinere Flüchtigkeitsfehler wiederum sind bei solchen Arbeiten unvermeidlich und darum verzeihlich, wenn auch wohl nicht zuletzt für die Autorin selbst ärgerlich. So wird im Text etwa von Margaret Mead gesprochen, obwohl aus dem Zusammenhang und den Endnoten deutlich wird, dass Betty Friedan gemeint ist, das Akronym SPD wird als Sozialistische Partei Deutschlands aufgeschlüsselt oder es ist die Rede davon, dass jemandem etwas „aufoktroyiert“ werde.

Beschlossen sei die Besprechung mit einem für alle NetzfeministInnen erfreulichen Hinweis Perinciolis: „Die in diesem Buch aufgestellten Thesen können von LeserInnen ergänzt und auf der dazu eröffneten Plattform diskutiert werden.“

Titelbild

Christina Perincioli: Berlin wird feministisch. Das Beste, was von der 68er Bewegung blieb.
Querverlag, Berlin 2015.
242 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783896562326

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