Faust- und Geschlechterkampf

Ulrike Heider beleuchtet die Sexrevolte von 1968 und erörtert, was von ihr bleibt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Sexuelle Revolte vom Ende der 1960er-Jahre ist heutzutage eher übel beleumundet. Ebenso wie zahlreiche Konservative werfen ihr auch manche FeministInnen und andere vor, sie habe der Pornofizierung von Kultur und Alltag, der Gesellschaftsfähigkeit der Prostitution, dem grassierenden Kindsmissbrauch und dergleichen mehr den Weg bereitet. Ulrike Heider unternimmt nun unter dem lapidaren Titel „Vögeln ist schön“ eine Ehrenrettung.

Dabei wirft sie nicht nur einen Blick auf die Zeit um 1970, sondern geht noch etwas weiter zurück bis in die 1950er-Jahre, in denen die „Machthaber der Adenauer-Ära versuchten, die Menschen mit strikter Arbeits- und Sexualmoral zu disziplinieren“. In jener Zeit der „protofaschistischen Republik der Biedermänner“ war Sexualität „unabdingbar verbunden mit Verzicht, Angst, Scham, Geheimnis und einer nur unter solchen Voraussetzungen versprochenen Romantik, vor deren Zerstörung gewarnt“ wurde. So wurde 1959 selbst der offene Verkauf von Kondomen verboten. Zu der „Aura von Verbot, Angst, Geheimnis und Verbrechen, die das Sexuelle“ bis weit in die 1960er-Jahre „umgab“, und der „alles durchdringenden Frauenfeindlichkeit“ passte der „verdrücke Libertinismus“ von „übermenschenverdächtigen Weiberhassern“ wie Henry de Montherlant, Henry Miller und Norman Mailer nur allzu gut, konstatiert Heider sicher zurecht und merkt an, dass sich diese Herren „in Künstler- und Intellektuellenkreisen großer Beliebtheit“ erfreuten.

Gegen all dies wandte sich Ende der 1960er-Jahre die Sexuelle Revolte der Studierenden und – das darf nicht vergessen werden – der SchülerInnen. So zitiert Titel des Buches denn auch einen 1968 im Hof einer Homberger Schule gesprühten Spruch. Er löste treffsicher einen Skandal aus, der sowohl den oberhessischen Ort wie auch die Lokalpresse dauerhaft über den Tag hinaus beschäftigte, während Frankfurter SchülerInnen ungerührt forderten: „Wir wollen jederzeit und überall vögeln, auch in der Schule.“

Geht Heider auch zurück bis in die Jahre vor 1968, so nimmt die Zeit nach der Sexuellen Revolte doch ungleich mehr Raum ein. Denn die Autorin geht vor allem den „sich wandelnden und wiederholenden Vorstellungen“ vom Wesen der Sexualität über die letzten Jahrzehnte hinweg bis in die Gegenwart hinein nach, um zu schauen, was von der „Sexrevolte“ blieb.

Sie selbst darf man dabei ruhigen Gewissens als teilnehmende Beobachterin bezeichnen, gehört sie doch nicht nur der Studierendengeneration an, die den tausendjährigen Muff unter den Talaren der universitären Würdenträger hervorblies, sondern beteiligte sich während ihres Studiums in Frankfurt selbst an studentischen Insubordinationen. Auch charakterisiert sich die freie Schriftstellerin noch immer als „Antiautoritäre“ und garniert die Thesen ihres flüssig geschriebenen Buches mit etlichen Anekdoten aus ihrer eigenen Biographie. So erzählt sie etwa von zwei Situationen, in denen sie beinahe vergewaltigt worden wäre, anhand derer sie verdeutlicht, wie sich der Umgang mit sexueller Gewalt innerhalb der Linken änderte. 1970, beim ersten Mal, wurde sie von einem fremden Mann im Hauseingang überfallen, konnte ihn jedoch von dem Verbrechen abbringen, indem sie ihn in ein Gespräch verwickelte. Ein Freund von ihr, dem sie oben in der Wohnung unmittelbar nach der vereitelten Tat davon erzählte, wollte sofort hinunter und ihm nacheilen – um ebenfalls mit dem Täter zu diskutieren. Ein halbes Jahrzehnt später versuchte sich ein als Serienvergewaltiger bekannter linker Drogendealer an ihr zu vergehen. Diesmal planten ihre feministischen Freundinnen, dem Sexualverbrecher „gemeinsam aufzulauern, um ihn dann mit Frauenhänden zu verprügeln“. Da Heider jedoch gegen Selbstjustiz war, sahen sie schließlich davon ab. Verprügelt wurde er dann aber doch, nämlich vom „allzeit kampfbereiten Joschka Fischer, der den Bösewicht“, wie Heider den Täter verharmlosend apostrophiert, „mit einigen Fausthieben abstrafte“.

Sind solche persönlichen Erlebnisse auch nur von beschränkter Verallgemeinerbarkeit, so eignen sie sich doch, um einen bestimmten Zeitgeist zu vergegenwärtigen. Nicht sehr vertrauenserweckend ist hingegen das von Heider als „Quelle der Überlieferung“ herangezogene Internetportal „Wikipedia“, wenn es gilt, die Behauptung zu beglaubigen, dass Sigrid Rüger die berühmten Tomaten auf dem SDS-Kongress von 1968 mit den Worten „Genosse Krahl, Du bist objektiv ein Konterrevolutionär und ein Agent des Klassenfeindes dazu“, aufs männlich besetzte Podium schleuderte.

Auf ihrem Weg durch die Jahrzehnte von der Sexuellen Revolte bis heute befasst sich Heider intensiver mit den jeweils meistgelesenen und einflussreichsten Büchern zum Thema Geschlechterverhältnis und Sexualität: So wirft sie etwa einen kritischen Blick auf Simone de Beauvoirs „Das andre Geschlecht“ und auf Verena Stefans „Häutungen“, einen vernichtenden auf Michel Foucaults „Sexualität und Wahrheit“ und Camille Paglias „Masken der Sexualität“ sowie einen wohlwollenden auf Judith Butlers „Gender Trouble“.Viel Lob spendet sie Inga Buhmanns autobiographischem Buch „Ich habe mir eine Geschichte geschrieben“.

Für manche möglicherweise überraschend positiv bewertet Heider auch die Bücher Oswald Kolles, der die Deutschen gegen Ende der 1960er-Jahre über ihre Sexualität und „das unbekannte Wesen“ des jeweils anderen Geschlechts aufklärte. „Ebenso liberal wie human“ gesonnen „kritisierte“ er in seinen Büchern und Filmen „Jungfräulichkeitswahn und dogmatisches Beharren auf ehelicher Treue“, „rehabilitierte die Masturbation und räumte mit der Angst vor der Pille auf“. Ein Revolutionär aber war er beileibe nicht. „Ehe und Familie mögen“ für Kolle zwar „der Reform bedürfen, bleiben aber grundsätzlich ebenso unhinterfragt wie die traditionellen Geschlechterrollen und -unterschiede“. So waren seine Aufklärungsbücher denn auch „nichts für die Jugendlichen der damaligen Zeit, die sich gegen ihre Eltern und Lehrer erhoben“. Die griffen lieber zu Günter Amendts wirklich radikaler Schrift „Sexfront“. Ein Buch, dessen Besitz heute übrigens aufgrund der Abbildung eines erigierten Jungenpenis gegen das Strafrecht verstößt. Im Antiquariatshandel ist es gleichwohl noch immer zu finden.

Es dauerte nicht lange, da wurde die Sexuelle Revolte „von der Sexwelle überschwemmt“, was man „vor allem am Frauenbild ablesen konnte“. Nicht schon die Sexuelle Revolution also war Heider zufolge frauenfeindlich, sondern erst die von Anfang an kommerzielle Sexwelle, wobei die Zeitschrift „Konkret“, die auf dem Umschlag gerne „blöde und hilflos dreinblickende Titelmiezen mit halbgeöffneten Kindermündern“ abbildete, um 1970 „für den Schnittpunkt von Sexwelle und Sexueller Revolution typisch“ war.

Nicht nur Heiders Blick auf die Sexwelle, sondern auch der auf die Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre ist weitgehend kritisch. Nicht immer völlig zu Unrecht. So waren einige der von ihr gegeißelten Phänomene wie etwa die Heiligsprechung der Mutterschaft oder wundergläubige Esoterik zu bestimmten Zeiten unter Feministinnen tatsächlich recht verbreitet. Dass „Männerhass, Männerausrottungsphantasien und finstere Drohungen zum Trend wurden“, ist jedoch reichlich übertrieben. Auch ist ihre Engführung zwischen Teilen der Frauenbewegung und den „Warnungen ihrer Mütter und Großmütter vor den bösen Buben, die ein Mädchenleben doch so schnell zerstören könnten“, allzu polemisch. Zugleich aber hebt sie aus guten Gründen die überaus wichtige Rolle hervor, die den von „autonomen Feministinnen“ Mitte der 1970er-Jahren ins Leben gerufenen Frauenhäuser im Kampf gegen die „alltägliche Gewalt von Männern“ zukam.

Lastet Heider feministischen Gruppen der 1970er-Jahre an, männliche Sexualität mit Gewalt zusammengedacht, die Heterosexualität abgelehnt und im Penis den – wie Heider polemisiert – „Hauptteufel“ ausgemacht zu haben, so setzte der eigentliche Paradigmenwechsel von einem „naiv-optimistischen Sexualitätsbegriff“ hin zu einem, der Sexualität mit Gewalt verband, erst etwas später, nämlich um 1980 damit ein, dass die Sponti-Szene begann, die Pornographie zu rehabilitieren und ein unter dem Pseudonym Gernot Gailer schreibender taz-Redakteur einen „Lobgesang auf Pornographie und Prostitution“ anstimmte. Nun dachten die Männer Sexualität mit Gewalt zusammen – und sie wollten diese Vorstellung ausleben.

So feierte die offene Frauenverachtung in linken und liberalen Medien bald fröhliche Urstände. Heider zitiert etwa den Schriftsteller Simon Traston, der in dem Periodikum „Mein heimliches Auge“ schwärmte: „Das Sichhinknien des Weibes zum Empfang des Schwanzes ist die Demut des Nichts vor der Kraft… die reinste Form des Nurgeficktwerdenwollens, das äußerste weibliche Element“, während der für die „Zeit“ schreibende Journalist Ulrich Greiner bekannte: „Was wir wollen ist das Sexualobjekt. Der reine Körper ist Gegenstand unserer Begierde. Daß er eine Seele hat, kümmert uns nicht.“ „Das“, kommentiert Heider, „war das Gegenteil der Grundsätze der Sexuellen Revolution.“ Genau so ist es.

Das theoretische Rüstzeug für derlei misogyne Ergüsse lieferten Denker wie Michel Foucault, der etwa meinte, „dass es keine Lust ohne Machtausübung“ gebe. „Im Falle der Sexualität, so paraphrasiert Heider ihn „verschränkt sie sich mit dieser, dringt ganz in sie ein, so dass ein Entrinnen unmöglich ist“. „Niemals“ schrieb Foucault, habe „die Sexualität eine unmittelbarere und natürlichere Bedeutung und ein ‚größeres Glück des Ausdrucks‘“ gehabt, „als in der christlichen Welt der gefallenen Körper und der Sünde“. Die Aufhebung ihres Verbotes nutze die Lust an der Sexualität Foucault zufolge hingegen nur ab. Allen voran aber haben sich die neuen Jünger de Sades mit den Werken des bereits 1962 verstorbenen französischen Schriftstellers Georges Bataille munitioniert, der die lustvolle Verbindung von Sexualität und Gewalt sowohl in seinen literarischen Texten, von denen einige unter dem Titel „Das obszöne Werk“ erschienen, wie auch in seinen als Sachbuch auftretenden Phantasien vom „heiligen Eros“ propagiert. In letzterem räumt er zwar ein, dass nicht jede Frau „potentiell eine Prostituierte“ ist, erklärt die Prostitution aber zu einer „Folge der weiblichen Haltung“. Denn Frauen, schreibt Bataille, „bieten sich wie Objekte dem aggressiven Verlangen des Mannes dar“. Dies, sei eben „die weibliche Grundhaltung“. „Die eigentliche Prostitution führt nur die Praxis der Käuflichkeit ein“. Selbst einige Frauen teilten ähnliche Auffassungen von Sexualität. Auf weiblicher Seite nennt Heider etwa Cora Stephan mit ihrer „Vision vom ‚Titanenkampf der Geschlechter‘“ und Claudia Gehrke, die Herausgeberin der Zeitschrift „Mein Heimliches Auge“.

Dieser während der 1980er-Jahre in Sachen Sexualität hegemoniale „konservativen Trend“ wurde zwar in den 1990ern durch Camille Paglia und einige andere fortgeführt, doch bekam im Zuge von Butlers bahnbrechenden Überlegungen in ihrem Buch „Gender Trouble“ nun auch eine Gegenbewegung Aufwind.

Doch auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sind mancherorts noch immer sadomasochistische Phantasien en vogue. „Parallel zur Wiederkehr des phobischen Umgangs mit den Themen sexueller Missbrauch und Pädophilie brachten die 1990er und 2000er-Jahre mit dem Überufern von Pornographie und Pufferotik in ungeahntem Ausmaß deren weitgehende Akzeptanz“, klagt Heider. Auch straft sie den „pornographischen Kitschroman“ „Shades of Grey“ oder Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ ab. Roches Buch erinnere sie an „dreckige Witze“, die „an Männerstammtischen erzählt“ werden.

Mag man auch nicht allen Ausführungen und Befunden Heiders zustimmen und sich über dieses oder jenes vielleicht sogar ärgern, so hat sie doch ein hochinformatives Buch vorgelegt, das nicht nur die Nachgeborenen der Sexuellen Revolte mit Gewinn lesen werden. Möge sich Heiders Hoffnung erfüllen, dass Sexualität wieder „zusammen mit Lebensfreude und Genuss gedacht“ wird, ohne dass dabei die „Fehler der Sexuellen Revolution“, wiederholt werden, nämlich die Befreiung der Sexualität „zu idealisieren und zu romantisieren“.

Titelbild

Ulrike Heider: Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt.
Rotbuch Verlag, Berlin 2014.
320 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783867891967

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