Zahl- oder Zuchtmeister?

Herfried Münklers Plädoyer für Deutschland als „Macht in der Mitte“

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende März erregte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ mit einem bewusst provokativen Titelbild Aufsehen: Die Kanzlerin stand freundlich lächelnd in den Himmel blickend inmitten von Nazi-Schergen, im Hintergrund die Akropolis. Betitelt wurde das Bild mit „Wie Europäer auf die Deutschen blicken“ – und in Versalien: „The German Übermacht“. Die Montage ist absichtlich deutlich erkennbar und trotzdem erinnert das Bild sofort an den triumphierenden Adolf Hitler in Paris mit dem Eiffelturm als Hintergrund. Die Überschrift „German Übermacht“ ist eine Anspielung an „German Angst“, jenes den Deutschen zugeschriebene Gefühl von übertriebener Zukunfts- und Technikangst. An politischen Akademien, besonders in den USA, wird damit auch die äußerst zögerliche politische Haltung Deutschlands bezeichnet, sich aufgrund seiner Geschichte an militärisch flankierten Befriedungsoperationen in Krisengebieten zu beteiligen. Im Gegensatz zum reißerischen Titelbild fiel der Beitrag im Heft dann eher banal aus: Deutschland sei auf ökonomische Macht fokussiert, nicht (mehr) auf militärische. Dass die Sache wesentlich komplexer ist, kann man im neuesten Buch Macht in der Mitte von Herfried Münkler nachlesen.

Münkler berücksichtigt in seinem Essay zwar „wie Europäer auf die Deutschen blicken“, leitet hieraus jedoch keine Handlungsimperative für die deutsche Politik ab. Bereits in seiner kurzen Einleitung wird klar, dass Deutschland von ihm als „Macht in der Mitte“ gesehen wird; der ostentativ häufig verwendete Terminus wird im Buch durchgängig kursiv gesetzt. Am Ende soll die alles entscheidende Frage beantwortet werden: Welche Aufgaben kann Deutschland übernehmen, damit Europa zusammengehalten werden kann?

Neben der Überlebenswichtigkeit dessen, was Europäische Union genannt wird, setzt diese Frage drei weitere Bedingungen voraus: 1. Die EU respektive Europa droht durch Zunahme zentrifugaler Kräfte als politischer wie auch ökonomischer Raum auseinanderzufallen. 2. Es obliegt einer Macht, die zentripetalen Kräfte in der EU zu stärken, Politik zu moderieren und, wo nötig, auch zu führen. 3. Diese Macht ist Deutschland.

Die Hinführung Münklers nimmt ein beachtliches Volumen in seinem Essay ein. So versucht er zunächst die Grenzen Europas beziehungsweise der EU zu definieren. Welche Kriterien legt man für die Zugehörigkeit zur EU an? Geographische, religiöse, kulturelle oder politische? Beispiele werden angeführt und zeigen, wie sich die Sichtweisen teilweise überlagern. Auch skurrile Antworten werden vorgestellt, so etwa Giorgio Agambens Idee eines „lateinischen Europa“ (das mit guter Begründung als regressiv verworfen wird). Die EG- beziehungsweise EU-Erweiterungen der Vergangenheit sieht Münkler allesamt als pragmatische Entscheidungen. In den 1970er-Jahren habe in der EG mit Großbritannien und Irland als neue Mitglieder der Gedanke der strategischen Integration Vorrang gehabt. In den 1980er-Jahren seien die damals noch fragilen, sich gerade aus Diktaturen befreit habenden Länder wie Spanien, Portugal und Griechenland aufgenommen worden, um diese jungen Demokratien zu stabilisieren. Die Norderweiterung mit Schweden und Finnland in den 1990er-Jahren generierte neue Nettozahler. Die Osterweiterung folgte dann ähnlichen Überlegungen wie im Jahrzehnt davor. Münkler prognostiziert sogar eine weitere Erweiterungsrunde mit den südosteuropäischen Staaten auf dem Balkan (ohne allerdings die Kandidaten einzeln zu bewerten).

Zu einer eindeutigen Antwort, welche empirischen Kriterien man nun als relevant für die Zugehörigkeit einer Nation in der EU ansehen sollte, lässt sich Münkler nicht hinreißen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das heißt die einseitige Erklärung eines beitrittswilligen Landes, sieht er nicht als für die EU verbindlich an. Am Ende kommt er zu einer nüchternen Lösung: Wenn längerfristig „die Kosten eines Beitritts niedriger liegen als die des Draußen-Haltens“, dann sollte man den Beitritt ermöglichen. Dabei ist der Begriff der „Kosten“ nicht ausschließlich auf ökonomische Gründe beschränkt, sondern beinhaltet auch geopolitische Erwägungen.

Münkler definiert die EU als Bündnis gemeinsamer Identitäten und übereinstimmender Wertvorstellungen. Dies unterscheide sie beispielsweise von der NATO, die er als „strategisches Bündnis“ subsummiert. Der Autor sieht Anzeichen für eine Überdehnung der  EU, warnt jedoch andererseits vor dem Auseinanderfallen, was beispielsweise bei einer leichtfertigen Abspaltung des Euroraums in einen Nord- und einen Süd-Euro geschehen würde. Er knüpft Analogien vom Römischen Reich über den Zerfall des Karolingischen Reiches bis hin zu den katastrophalen Folgen des Ersten Weltkriegs, an dessen Ende gleich zwei Imperien standen: Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich.

Schließlich thematisiert Münkler ausgiebig das mehrfache Versagen Deutschlands als Mittelmacht, insbesondere nach der Reichseinigung 1871, als Deutschland nicht zuletzt aufgrund seiner expandierenden Ökonomie für Großbritannien gefährlich zu werden drohte und Bismarck gleichzeitig eine fragile und auf hegemonialer Passivität begründete Bündnispolitik verfolgte, die nach seiner Demission 1890 und durch immer deutlicher hervortretende Großmachtansprüche des Kaisers konterkariert wurde und schließlich in die Katastrophe von 1914 führte. Zwar weist der Autor ausdrücklich auf die in der Vergangenheit unguten Erlebnisse für die Welt mit Deutschland als Mittelmacht hin, die man durchaus beachten müsse. Allerdings sei die Lage heutzutage eine gänzlich andere.

Durch den Wegfall der Bipolarität 1990 und der einhergegangenen Osterweiterung liege Deutschland nun auch geostrategisch in der Mitte und sei in den letzten Jahren immer mehr in die Rolle einer „Macht in der Mitte“ hineingewachsen. Schließlich sei Deutschland die führende Industrie- und Wirtschaftsmacht in Europa (mit dem Nebeneffekt, mehr als 25 Prozent der Einnahmen der EU beizusteuern; etwas, was Münkler „überproportional“ nennt). Hinzu komme das sich unter der Obama-Regierung immer stärker zeigende „Disengagement“ der USA in Europa. Hieraus schließt Münkler, dass Deutschland diese „Mittelmacht“-Position anzunehmen habe – nicht zuletzt aufgrund der Verwerfungen der Euro- und Finanzkrise, die, so die These, das „neue politische Gewicht Deutschlands“ anzeige. Als einzige Alternative gäbe es nur das Tandem Deutschland/Frankreich, aber Münkler hält Frankreich ökonomisch und politisch – zumindest derzeit – für zu schwach. Und so müsse Deutschland „in Europa führen, aber es muss dies in einer umsichtigen, auf möglichst breite und nachhaltige Unterstützung bedachten Art und Weise tun“.

Der Autor sieht allerdings auch „strategische Verwundbarkeiten“: So ist mit diesem Führungsanspruch die sich bisher zeigende relative „Populismusresistenz“ in der deutschen Bevölkerung verknüpft. Rechts- wie linkspopulistische Parteien würden in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern bisher nicht nennenswert bei Wahlen berücksichtigt. Dies sei ein nicht zu unterschätzender Beleg für die politische Stabilität Deutschlands. Die „Macht in der Mitte“ müsse zwar selber aus der Mitte regiert werden, aber Münkler sieht in der sich dauerhaft abzeichnenden „Großen Koalition“ auch einen veritablen Unsicherheitsfaktor. Die fehlenden innenpolitischen Kontroversen förderten Politik- und Parteienverdrossenheit und könnten zum Erstarken von radikalen, sich als Protest generierende Parteien führen. Zitiert werden sie nicht, aber die österreichischen Verhältnisse tauchen am Horizont durchaus als Bedrohung auf.

Die „wahrscheinlich schwerwiegendste Verwundbarkeit“ für eine deutsche Führungsposition sieht Münkler in den jederzeit möglichen Verweisen auf die Verbrechen Deutschlands während des Nationalsozialismus. Wie sich im Rahmen der Euro-Rettungspolitik speziell mit den in den südlichen Ländern aufgetretenen Schmähungen gegenüber Deutschland gezeigt habe, werde die Vergangenheit Deutschlands immer wieder herangezogen, um unbeliebte politische Beschlüsse und Verfahren zu diskreditieren. Hieraus leitet Münkler allerdings nicht nur einen Nachteil ab, sondern entdeckt auch einen mäßigenden und disziplinierenden Effekt auf die deutsche Politik.

Dieser vermeintliche Argumentations-Coup zeigt jedoch auch seine Schwäche: Die Erwartungen, die er an Deutschland herangetragen sieht, sind höchst subjektiver Art. Münkler verknüpft daher die politische Rolle mit der wirtschaftlichen Potenz Deutschlands: „‚Zahlmeister‘ kann auf Dauer nur sein, wer auch bereit ist, die schwierige Rolle eines ‚Zuchtmeisters‘ zu spielen“, so Münkler. Was aber, wenn der womöglich ambitionierte „Zahlmeister“ als solcher zwar akzeptiert wird, aber nicht als „Zuchtmeister“? Kann man ernsthaft Beitragszahlungen zur EU als Bedingung für politisches Gewicht einbringen?

Man mag Münkler gerne folgen, wenn er die „Administration von Wohlstand“ als nicht mehr ausreichendes Politikkonzept sieht. Aber für Deutschland ist es ein „Essential“, nicht zuletzt im Hinblick auf eine soziale Stabilität. Deutschland hat also das, was man gemeinhin ‚Interessen‘ nennt. Interessen, die unter Umständen im Kontrast zu gesellschaftlichen und ökonomischen Politikentwürfen anderer Länder der EU stehen. Abermals könnte man das Beispiel der Europolitik anführen, aber auch die Energiepolitik Deutschlands folgt einer anderen Ausrichtung als die beispielsweise Frankreichs. Von den divergierenden außen- und verteidigungspolitischen Interessen und Voraussetzungen gibt Münkler immerhin eine Ahnung: Der Ukraine-Konflikt nebst der Auffrischung eines neuen Kalten Krieges mit Russland tangiert Länder wie Portugal und Spanien weniger als die baltischen Staaten oder Polen. Gleichzeitig sind die Migrantenströme, die Italien und Griechenland über das Mittelmeer erreichen, für Polen oder Tschechien weniger dringlich.    

Ist in einer bis auf die Haarspitzen auf Konsens und Parität ausgerichteten Gemeinschaft wie der EU eine Führung eines Mitgliedslandes, sei sie auch noch so sanft und umsichtig, überhaupt möglich? Münkler hat keinen Zweifel, dies zu bejahen. Aber was ist mit dem politischen Personal der EU wie Kommission und Europaparlament? Wäre für diese Protagonisten eine wie auch immer implementierte informelle Führung durch einen Hegemon überhaupt akzeptabel? Indem Münkler die Auseinandersetzung mit den  Abläufen und Institutionen innerhalb der EU nicht vornimmt, bleibt unklar, in welche institutionelle Richtung diese „Führung“ nachhaltig eingebettet werden soll. Das Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ hat selbst Münkler schon abgehakt. Aber was dann? Eine reine Wirtschaftsunion wie es die Briten wünschen? Oder doch ein ökonomisch-politisches Konstrukt mit einer gemeinsamen Finanzpolitik der Euro-Länder? Wenn Münkler beispielsweise die Bemühungen zur Befriedung des Ukraine-/Donbass-Konfliktes unter der Führung von Deutschland (und Frankreich!) als gelungen darstellt (dabei positiv erwähnend, dass von allen Beteiligten einschließlich Russland kein Rekurs auf die deutsche Vergangenheit geführt wurde) und die Position der EU-Außenbeauftragten als gescheitert darstellt, dann müssten grundlegende institutionelle Veränderungen durchgeführt werden. Dies dürfte jedoch insbesondere mit einer Stoßrichtung zur deutschen Führungsrolle in der EU nicht durchsetzbar sein. Wenn Münkler schon auf der ersten Seite schreibt, er wolle kein Buch über die Brüsseler Bürokratie schreiben, so zeigt sich am Ende, dass es unmöglich ist, über eine Führungsrolle Deutschlands (oder einer anderen Nation) zu reden, ohne einen gewissen Reformkatalog im Rahmen der EU zu formulieren.

Die EU in ihrer derzeitigen Konstruktion ist eben gerade nicht vergleichbar mit einem Imperium des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ein sanfter oder, im Falle von Deutschland, durch die Vergangenheit „verwundbarer Hegemon“ ist zudem ein Widerspruch in sich. Hegemonialmächte, deren Schwächen offensichtlich sind, sind allenfalls noch „lame ducks“. Obwohl Münkler ausgiebig referiert, wie der Euro zur Eindämmung der Dominanz aus Anlass eines wiedervereinigten Deutschlands aus politischen Gründen implementiert wurde, scheint er den Fall, dass einige Protagonisten die Führungsrolle Deutschlands nicht akzeptieren könnten, nicht einkalkuliert zu haben. In jedem Fall stellte sich die Frage: Welche Sanktionsmechanismen hätte ein Deutschland, dessen „Hauptaufgabe“ in der „Pflege der ökonomischen Macht“ liegt?  

Merkwürdig, wenn Münkler das deutsche Nicht-Engagement im Fall von Libyen 2011 als „verheerend“ für Deutschlands und Europas Interessen sieht. Dabei irrt er, wenn er schreibt, dass man den Interventionsentscheidungen zugestimmt habe. Der damalige Außenminister Guido Westerwelle hatte sich im UN-Sicherheitsrat der Stimme enthalten. Münkler vertritt nun die These, Deutschland hätte sich entweder an einer alternativen Politik versuchen müssen oder mitmachen sollen. Das „Dabeistehen und Zuschauen“ sei falsch gewesen. Ein erstaunliches Bekenntnis, da Münkler ansonsten ein großer strategischer Kenner und ihm sicherlich bekannt ist, dass es sehr viel einfacher ist, in Kriege ein- als aus ihnen aufrecht wieder herauszutreten. Der blinde und oberflächliche Interventionismus der Franzosen und Amerikaner in Libyen hat zwar das „Problem Gaddafi“ beseitigt, aber eine nachhaltige Befriedung des Landes konnte eine solche Aktion nicht bringen, zumal ein weiteres Engagement von beiden Seiten schon im Vorfeld ausgeschlossen wurde. Außenpolitik sollte gerade nicht auf populistische Affekte gründen.

Münkler ist auch in Macht in der Mitte ein brillanter Stilist. Seine Ausführungen sind anregend, die historischen Analogien inspirierend, etwa wenn Rom, Athen und Jerusalem als jahrhundertelang romantisch aufgeladene Identitätsorte der Europäer markiert werden. Die Absicht, die EU als Vereinigungsprojekt voranzubringen, ist löblich. In der zentralen These einer Notwendigkeit einer deutschen Führungsrolle überzeugt der Essay allerdings nicht.

Titelbild

Herfried Münkler: Macht in der Mitte. die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa.
Körber-Stiftung, Hamburg 2015.
203 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783896841650

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