Ex oriente lux

Blicke aus dem mittelalterlichen Europa nach Asien – und manchmal auch zurück. Über Folker Reicherts „Studien zur Geschichte des Reisens“

Von Hiram KümperRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hiram Kümper

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es hierzulande um die Geschichte des Reisens im Mittelalter geht, wird früher oder später der Name Folker Reichert fallen. Das hat guten Grund. Seit rund zwanzig Jahren hat er sich nicht nur forschend mit dem Gegenstand auseinandergesetzt, sondern sich vor allem große Verdienste um die Vermittlung des fast immer spannenden, aber mitunter sperrigen Quellenmaterials erworben: als Anthologist, als Übersetzer mittelalterlicher Quellentexte, etwa in der renommierten Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, und als Verfasser von schön bebilderten, dabei stets substanzhaltigen Sachbüchern, die eine größere Öffentlichkeit als das historische Fachpublikum erreichen konnten.

Jetzt ist Reichert selbst Gegenstand einer Anthologie – einer Auswahl nämlich von zwanzig seiner in den letzten Jahrzehnten erschienenen kürzeren Forschungsbeiträge, die sich mit den Verbindungen zwischen Asien und Europa im Hoch- und Spätmittelalter befassen, ergänzt durch zwei neue, bislang ungedruckte Beiträge. Bilder gibt es dabei auch, aber nicht so viele und leider nicht so schön bunt reproduzierte wie in seinem vor kurzem noch bei der Darmstädter WBG erschienenen Überblick „Das Bild der Welt im Mittelalter“ (2013). Dafür gibt es quellensatte Einblicke in eine spannende Wechselbeziehung.

Der Osten hat die Europäer schon seit der Antike ganz besonders fasziniert – „ex oriente lux“, Licht strahlte aus dem Osten. Irgendwo dort ganz fern vermutete man das irdische Paradies, nahmen die vier großen Ströme, deren Wasser die Ozeane füllten, ihren Anfang, entsprangen aber auch die apokalyptischen Völker, die das Jüngste Gericht ankündigen sollten. Vom nahen Osten „outremer“, jenseits des (Mittel-)Meeres, der spätestens seit den Kreuzzügen den Europäern gedanklich sehr nahe rückte, bis hin zum ganz fernen Osten, ja bis an die Ränder der damals bekannten Welt, führen uns die Berichte, die Reichert in seinen Aufsätzen durchpflügt. Er tut das mit sehr unterschiedlichen Fragestellungen und entsprechend unterschiedlicher Dichte. Eine prominente Rolle spielt neben etwa Marco Polo oder einer größeren Reihe von Pilgerberichten der Bericht des Franziskanermönchs Odorico da Pordenone von seiner diplomatisch-missionarischen Reise zum mongolischen Großkhan im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts. Er ist unglaublich populär gewesen und mehrfach bearbeitet, schon wenige Jahre nach seiner Abfassung auch ins Deutsche übersetzt worden. Auch diesen Bericht hat – man erkenne ein Muster! – im Übrigen Folker Reichert aus einer Auswahl der weit zirkulierenden lateinischen Fassungen ins Hochdeutsche übersetzt; allerdings schon 1987. So mag die intime Kenntnis der Überlieferungsvarianten, die gerade aus den hier versammelten Beiträgen über Odoricos Bericht spricht, auf den zweiten Blick nicht mehr ganz so sehr verwundern. Freuen darf man sich freilich weiterhin darüber.

Einer der beiden bislang nicht gedruckten Aufsätze in Reicherts Sammlung nimmt sich den „rheinischen Marco Polo“ Arnold von Harff (1471-1505) vor, der sich – nicht zuletzt auch durch die Arbeiten Reicherts und Helmut Brall-Tuchels, die gemeinsam 2007 eine mittlerweile schon zweimal neu aufgelegte Übersetzung vorgelegt haben  – seit einigen Jahren von einem ziemlich anonymen niederrheinischen Ritterlein zu einem prominenten Augenzeugen der spätmittelalterlichen Welt gemausert hat. Bis an die Quellen des Nils und zum Thomas-Grab nach Indien hat es Arnold angeblich verschlagen. Und auch den westlichen Rand der Welt, das so genannte Fegefeuer des Heiligen Patrick in Irland, wollte er besuchen; daraus aber sei dann nichts geworden. Wie viel von den Orten, über die er berichtete, Arnold nun tatsächlich selbst gesehen hat, ist mitunter gar nicht so leicht zu sagen. Fest steht nur, dass er massiv auf ältere Reiseberichte, vor allem die berühmten Reisen Mandevilles, zurückgriff.

Alle einzelnen Beiträge der überlegt zusammengestellten Sammlung hier anzusprechen, tut keine Not. Im Wesentlichen führt uns Folker Reichert zunächst in den Nahen Osten der Kreuzzug- und Pilgerliteratur, dann mit den Mongolen-, China- und Indien-Reisenden weiter in die Ferne und schließt mit einer Reihe spannender Beiträge über die Entdeckung Amerikas im Horizont der Asien-Vorstellungen des ausgehenden Mittelalters („Asien in Amerika“). Immer wieder übrigens zieht er dabei auch Parallelen in die Neuzeit und zeigt, wie sehr unsere Vorstellungen vom „Zeitalter der Entdeckungen“ europäische Wertmaßstäbe und Welthorizonte geprägt haben.

Beschlossen wird die Sammlung der Nachdrucke dann auch durch einen längeren, bislang ungedruckten Beitrag Reicherts, der die Geschichte der europäischen Entdeckungen und Expansionen durch einen spannenden Perspektivwechsel ergänzt: die „umgekehrten Entdeckungsreisen“ von Nichteuropäern nach Europa und in den Rest der Welt. Solche Reisen haben erst in den letzten paar Jahren verstärkte Beachtung in der europäischen Forschung gefunden. Reichert lotet das Potenzial vergleichender Betrachtung dieser und europäischer Berichte aus – erfreulich kritisch, die Grenzen eines solchen Vergleichs ebenso aufzeigend wie dessen Erkenntnismöglichkeiten.

Wer Reicherts schön bebilderte Überblicke und gut kommentierte Übersetzungen mochte, der wird sich freuen, seine selten abseitig, aber doch naturgemäß verstreut erschienenen Forschungsbeiträge nun auch so handlich beieinander zu haben. Die im Anhang sparsam aktualisierenden Literaturnachträge und das gemeinsame Register dürften ein Übriges dazu tun.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Folker Reichert: Asien und Europa im Mittelalter. Studien zur Geschichte des Reisens.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014.
557 Seiten, 69,99 EUR.
ISBN-13: 9783525300725

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