Kritiker der Philosophie seiner Zeit

Über den Briefwechsel zwischen Hermann Cohen und August Stadler

Von Thomas MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Name Hermann Cohens (1842–1918) dürfte, wenn überhaupt, vor allem als sogenanntes Schuloberhaupt einer als „Marburger Neukantianer“ bezeichneten Gruppe von Philosophen bekannt sein, die Immanuel Kants Werk, folgt man der gängigen Lesart, als Annäherung der Philosophie an die Exaktheitsbestrebungen der Naturwissenschaften begriff.

Dass Cohen eine solche Reduktion nie anstrebte und ein gänzlich anderes, weitaus komplexeres Werk hinterlassen hat, das, man traut es sich kaum zu schreiben, brennend aktuell ist, diese Einsicht verdankt man nicht zuletzt dem Philosophiehistoriker Hartwig Wiedebach. Der in Zürich lehrende Wiedebach hat nicht nur die Werkausgabe Cohens im Olms Verlag betreut und selbst zahlreiche Bände akribisch ediert und kommentiert, sondern auch das Schaffen seines Helden auf sympathische Weise propagiert. Wer je eine spontane Intervention oder einen freien Vortrag Wiedebachs gehört hat, weiß genau, wovon hier die Rede ist.

Nun hat der „Cohenianer“ einen Band mit Briefen an den Schüler und Freund August Stadler (1850–1910) vorgelegt. Die 64 erhaltenen Briefe und Postkarten stammen überwiegend aus den Jahren 1872 bis 1881. Damit ist schon eine Aussage über die Archivsituation gemacht, die im Falle Cohens desaströs ist. Zahllose Dokumente müssen als verloren, zerstört in den sogenannten „Wirren des Krieges“, gelten oder sind womöglich in einem russischen Archiv versteckt. Cohens Frau, Tochter des berühmten Komponisten Louis Lewandowski, seinerzeit noch im Besitz zumindest eines Teils des Nachlasses, wurde nach Theresienstadt deportiert und starb dort am 12. September 1942 im Alter von 82 Jahren.

Immerhin, zusammen mit der Auswahl von Briefen und Dokumenten, die Wiedebachs Lehrer Helmut Holzhey im zweiten Band seines Standardwerks „Cohen und Natorp“ (1986) zugänglich machte, dazu mit Ulrich Siegs unüberholter Rekonstruktion des „Marburger Neukantianismus“ (1994) und schließlich mit der Veröffentlichung der Briefe Hermann und Martha Cohens an dessen wichtigsten Schüler Ernst Cassirer (2014), lässt sich nunmehr allmählich von einer Konturierung der Person und des Werkes aus den Quellen sprechen.

Der Briefwechsel mit Stadler gibt Einblick in Cohens Anfänge: die Habilitation 1873 in Marburg, der Ruf als erster nichtgetaufter Jude auf einen Philosophielehrstuhl in Deutschland, die Entwicklung seiner mehrbändigen Kant-Exegese sowie den Übergang und die Ausformulierung des eigenen „Systems der Philosophie“. Cohen ist Kritiker der Philosophie seiner Zeit, hat ein waches, freundschaftliches Auge auf Stadlers von Selbstzweifeln nicht freie Entwicklung und gibt uns Einblick in seine intellektuelle Entwicklung.

Der Anhang hält nicht nur für Ideenhistoriker eine feine Überraschung bereit: Wiedebach hat sämtliche akademische Lehrveranstaltungen Cohens von 1872 bis 1918 akribisch aufgelistet und kontextualisiert. Wer hier zu lesen weiß, der wird nicht die Einengung und damit „Erledigung“ Cohens als „Marburger Neukantianer“ obsolet finden, sondern einen wichtigen, eigenständigen Beitrag für das weitgehend als terra incognita geltende Feld der „Deutsche[n] Philosophie nach der Kleindeutschen Lösung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges“ entdecken. Bleibt die Hoffnung, dass sich die Nachricht, Hartwig Wiedebach sitze an einer intellektuellen Biographie Hermann Cohens, bald in die Ankündigung von deren Erscheinen wandelt.

Titelbild

Hermann Cohen: Briefe an August Stadler.
Herausgegeben von Hartwig Wiedebach.
Schwabe Verlag, Basel 2015.
172 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783796533488

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