Er schuf in seinen Bildern ein Paradies, das das Leben ihm grausam vorenthielt

Ein opulenter Paul-Gauguin-Band lädt zum Betrachten und Reflektieren ein

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die wunderbare Paul-Gauguin-Ausstellung in der Fondation Beyeler in Basel-Riehen – es war  wirklich eine Schau der Superlative – ist im Juni mit einer überwältigenden Besucherzahl zu Ende gegangen, aber  geblieben ist der  prächtige Katalog mit großformativen Farbabbildungen und mit Texten von ausgewiesenen Gauguin-Spezialisten, die neue Erkenntnisse zum Werk des französischen Bahnbrechers der Moderne einbringen.

Gauguin wollte eine Art Paradies heraufbeschwören. Und er war der Ansicht, dass solch ein Paradies wirklich einmal existiert hatte, dass es jedoch durch die westliche Zivilisation zerstört worden und nur noch als ein Schatten in sehr primitiven Gesellschaften aufzuspüren sei. Hier allerdings wird es besonders schwer, den Künstler Gauguin aus den Legenden herauszulösen, die sich um ihn gebildet haben. Denn Gauguin gab tatsächlich seine Laufbahn als Börsenmakler in Paris auf  und ging fort, um ein primitives Leben auf den Pazifischen Inseln zu führen. Darüber hinaus förderte er seine eigenen Legenden noch, indem er idyllische Berichte über dieses Leben schrieb (in „Noa Noa“, seinem halb fiktionalen Bericht über seinen Aufenthalt in der Südsee). Wir wissen aber aus seinen Briefen, dass sein Leben dort keineswegs so ablief, wie er es in seinen Bildern dargestellt hat.

In Tahiti fand Gauguin das Paradies weniger in der Realität als in seiner Vorstellung, und aus dieser Vorstellungskraft sind seine Bilder entstanden. Gauguin glaubte, dass er sich, wenn er Europa den Rücken kehrte, auch von der klassischen europäischen Malerei lösen könnte. Mythologische Malerei war im späten 19. Jahrhundert nicht mehr gefragt. Die Welt der Imagination war geschrumpft. Es gab nur noch die Welt rundum: Realismus, Naturalismus, Impressionismus – Alltagsmotive, die Straße, das Café, häusliche Interieurs, Freizeitbilder,  den Sonntagsausflug, das Landleben. Wo konnte in dieser Situation ein Künstler den untergründigen Strom menschlicher Erfindungskraft hinleiten? Wo war die neue Mythologie? Die Antwort war das Unterbewusste: Träume, Tagträume, das innere Auge. Der Zöllner Henri Rousseau kam zu dieser Entdeckung, als er im Pariser Jardin des Plantes unter Palmen und Aronstab-Bäumen spazieren ging und dabei das Geschrei und Gebrüll der Tiere im benachbarten Zoo hörte. Die Klarheit seiner Visionen erhöhte noch die zwingende, traumartige Eigenschaft seiner Bilder. Gauguin musste dagegen die halbe Welt durchreisen, um diese Entdeckung zu machen. Es kam nicht auf die äußerliche Reise an, es war die Reise ins eigene Innere, das geheimnisvolle „Zwerchfell“.

Welche Gefühle auch immer von den vibrierenden Farben und wirbelnden Formen Gauguins aufgerührt werden – sie sind zugleich beherrscht durch die Harmonie der Figuren und den inneren Frieden, den sie ausstrahlen. Gauguin schuf in seinen Bildern die Mythologie eines tropischen Paradieses, das ihm das Leben grausam vorenthielt. In diese geheimnisvolle, erträumte Welt integrierte er Darstellungen aus der Kunst unterschiedlichster Kulturkreise.

1897 malte er ein riesiges Bild „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“  Es ist mit Symbolen überfrachtet, von der tahitianischen Eva, die im Mittelpunkt des Bildes von einem tropischen Paradiesbaum eine Frucht pflückt, bis hin zu den flüsternden Gestalten und der alten Sibylle, die wie eine peruanische Mumie gebückt hockt. „Ein philosophisches Werk“, schrieb Gauguin einem Freund in Frankreich, „über ein Thema, das aus der Bibel stammen könnte“.

„Es ist unglaublich, wie man so viel Geheimnis in so leuchtende Farben hüllen kann“, soll Stéphane Mallarmé einmal vor Gauguins Bildern gesagt haben. Nicht nur Gauguins Themen, auch seine Farben waren zukunftweisend. Auf Tahiti leuchteten die Farben, und obwohl er auch früher, farblich gesehen, keinerlei Hemmungen gehabt hatte, erhielt Gauguins Palette jetzt eine noch tiefere, vollere Intensität. Wie alle Symbolisten glaubte er, dass Farbe wie das Wort wirke: dass es für jede Emotion, für jede Nuance des Gefühls ein farbliches Gegenstück gäbe. Dies war die optische Entsprechung für das, was Mallarmé als die „Musikalität“ eines Gedichtes bezeichnete. Sie führte Worte durch unterschwellige Wahlverwandtschaften und magnetische Felder zusammen, wie die Pole eines Magneten Eisenspäne zu einem Muster zusammenziehen. Wenn man also ein Gedicht aus Worten auf weißem Papier arrangierte, dann musste man auch die Malerei – so der Gauguin-Schüler Maurice Denis – erst einmal als geordnete Flecken auf einer ebenen, leeren Fläche sehen. Ihre Aufgabe war nicht, zu beschreiben, sondern etwas auszudrücken. So würde die Farbe frei wie die Gedanken werden.

Die Fragilität vieler in der Südsee entstandenen Gemälde ist ein Grund, dass Gauguin-Ausstellungen so selten sind. So war es ein Glücksumstand, dass bedeutende Werke aus Museen und Privatsammlungen aus Europa, Russland und den USA – vor allem sind das Museé d’Orsay in Paris, das Staatliche Museum für Bildende Künste A.S. Puschkin in  Moskau und die Staatliche Eremitage  in Sankt Petersburg sowie das Museum of Fine Arts in Boston zu nennen – den Weg nach Basel-Riehen gefunden hatten und nun auch im Katalog betrachtet werden können.

Martin Schwander, Kurator der Ausstellung, gibt eine problemorientierte Einführung in das Werk Gauguins und macht darauf aufmerksam, dass sich unter der verführerischen Oberfläche der Bilder oft schwer entzifferbare Bedeutungsschichten verbergen. Gauguin war bereits ein wichtiger Vertreter der symbolistischen Malerei in Paris gewesen, als er auf der Suche nach einem „natürlichen“ und „unentfremdeten“ Leben seine Expeditionen in die Südsee antrat. Ein Rückzugsort war ihm schon die Bretagne gewesen, wo er bereits als „Wilder“ und „Primitiver“ leben konnte. In „spirituellen“ Bildern stellte er in damals schockierenden, antinaturalistischen Farben ritualisierte Formen kollektiver Glaubensbezeugung dar („La vision du sermon“, 1888). Der „Indianer“ Gauguin, der sich auf seine Inkaherkunft berief, wurde dann zu einem der frühen Entdecker des bildkünstlerischen Potenzials Tahitis. Aber Tahiti erwies sich nicht als das erhoffte Gegenmodell zur verkommenen europäischen Zivilisation – die Bevölkerung war schon ihrer religiösen und kulturellen Identität beraubt –, aber letztlich sollte ihm der Aufenthalt auf den Maquesainseln neue Perspektiven öffnen. Schwander spricht von einem Synkretismus in Gauguins polynesischen Bildern, die zahlreichen Verweise auf ikonografische Motive haben ihren Ursprung in der europäischen, aber auch in der hinduistischen, altägyptischen oder buddhistischen Sakralkunst. Gauguins reifes Werk kann als Versuch verstanden werden, die zwei antagonistischen Traditionsstränge der neueren französischen Kunst zusammenzuführen: die „feste, sinnstiftende Linie“ (Jean-Auguste-Dominique Ingres) und die „‚geheimnisvolle‘, in ihrer Konsistenz und Emotivität schwer fassbare Farbe“ (Eugène Delacroix). Gauguins geheimnisvolles „Träumen“ kann man nicht – so der Verfasser – mit Obskurantismus oder einem naiven Glauben an die Magie der Kunst gleichsetzen. Gauguin habe Werke geschaffen, die prägende Gegensätze der Moderne in sich tragen: „den Gegensatz zwischen mystischem und selbstreflexivem Denken oder zwischen Überresten Baudelairescher Romantik und einem agnostischen und antitheologischen Denken, für das jeder Glaube eine Fiktion ist“. Diese bedenkenswerte These hätte allerdings einer ausführlicheren Begründung bedurft.

Co-Kurator Raphael Bouvier beschäftigt sich mit Gauguins Vermächtnis in der modernen und zeitgenössischen Kunst. Der frühe Kontakt mit Gauguins Kunst legte bereits den Grundstein für Pablo Picassos Primitivismus, noch bevor sich dieser der afrikanischen und ozeanischen Kunst zuwandte. Wie die Fauves Interesse an Gauguin zeigten (Bouvier gibt einen aufschlussreichen Vergleich von Matisses 1905/06 geschaffenem Gemälde „La joie du vivre“ mit Gauguins 1892 in Tahiti entstandenem Bild „Matamua“), wurden auch die deutschen Expressionisten – die Künstler der „Brücke“ und des „Blauen Reiter“ – von Gauguin beeinflusst. Dann, nach 1914, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Weiterentwicklung des Kubismus, nahm sein Einfluss merklich ab. Von Odilon Redon, der nach Gauguins Abreise nach Tahiti gleichsam dessen Stelle als „Vaterfigur“ für die Nabis-Künstler übernommen hatte, bis zur Gegenwartskunst gibt es Hommagen an die Person Gauguins und seine Kunst. Als einer der Gründerväter der modernen Malerei anerkannt, blieben die Legenden um sein Leben Teil seiner Geschichte, bis 1949, zum 100. Geburtstag des Künstlers, die Ursprünge dieser Legende, die seinem Werk anhing, genauer betrachtet wurde: „Liegt nicht das befremdliche Paradoxon unserer Gesellschaft darin: […] dass sie Genies will, die sie zu ihren Lebzeiten nicht unterstützen kann, um sie nach ihrem Tod desto besser hochzujubeln?“ 

Über das doppelte Sehen in den polynesischen Bildern äußert sich Alastair Wright am Beispiel des Gemäldes „Te Nave Nave Fenua“ (1892): Ein nacktes junges Mädchen vor einer üppigen Landschaft – es handelt sich wohl um die 13-jährige Tehaamana, mit der Gauguin skandalöserweise zusammengelebt hatte –, aber dahinter steht die Idee von Eva und dem Sündenfall. Gauguin verweist auf die Freudlosigkeit eines christianisierten Tahiti und auf den Sündenfall im Kontrast zur ungehemmten Ausübung alter Riten, wie sie durch geheimnisvolle Wesen oder Gesichter im Bildhintergrund zu sehen sind. Die Ikonografie des bösen Blicks und der befleckten Unschuld spielte für Gauguin, der Tahiti als ein verlorenes Paradies betrachtete, eine zentrale Rolle. Die gaffende männliche Figur in „Te Nave Nave Fenua“, die Schlange in „Nave Nave Moe“ oder der Totenschädel in „Madeleine Bernard“ sind in Wirklichkeit gar nicht vorhanden, doch wir glauben einen Moment lang, sie zu sehen. Der Betrachter selbst ist es, der das Böse in der Szene vor sich sieht, der die Lüsternheit und Verderbtheit in eigentlich ganz unschuldigen Szenen entdeckt. Auch wenn Gauguin schon in der Bretagne mit Doppelbildern dieser Art zu spielen begonnen hatte, so lotete er ihr Potenzial, die Kluft zwischen der Phantasie des Künstlers und der Realität der Welt anzudeuten, doch richtig erst in seinen tahitischen Arbeiten aus.

Lukas Gloor untersucht die Rezeption Gauguins anhand von zwei Ausstellungen, die 1928 in der Kunsthalle Basel und 1949/50 im Kunstmuseum Basel stattfanden. Die Epoche der verhaltenen Rezeption einer moderaten Moderne im Zeichen des Impressionismus habe der Epoche Platz gemacht, die bald den Triumph in ihrer radikalsten Form, also auch unter Überwindung des Gegenständlichen, mit sich bringen sollte.

Eine ausführliche Chronologie des Lebens von Gauguin von Isabelle Cahn und Gloria Groom, ein Verzeichnis der ausgestellten Werke und der ausgewählten Literatur schließen den so inhaltsreichen Band ab.

Am Ende war Gauguins Begeisterung für die Inseln nicht mehr die gleiche, und er fühlte sich in dem Mythos, den er geschaffen hatte, unrettbar gefangen. Den Visionär seines eigenen Lebens überfiel das Heimweh. Das Bild, das sich bei seinem Tod im Atelier auf der Staffelei befand, zeigt ein bretonisches Dorf im Schnee.  

Die Insel der Seligen gibt es nicht mehr – wenn sie überhaupt jemals bestanden hat. Aber den Traum von einem Paradies auf Erden, den Gauguin in die Südsee getrieben hat, sollten wir uns dennoch nicht nehmen lassen.

Titelbild

Nicolas Bouvier / Martin Schwander (Hg.): Paul Gauguin.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/Ruit 2015.
225 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783775739580

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