Die große Vereinzelung

Juan S. Guses Debütroman „Lärm und Wälder“ entwirft eine Poetik der Zivilisationsangst

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn die auffallendsten, in einem Roman gefühlt am häufigsten gebrauchten Adjektive „unfassbar“ und „minuziös“ lauten, dann ist klar: In diesem Buch geht es nicht um die Darstellung des Beweisbaren, sondern um eine detaillierte Form des Möglichen. Ist ein Protagonist erst einmal der Angst verfallen, ihm könnte etwas Schlimmes passieren, wird sein Grauen zur Wirklichkeit, aber ganz anders, als er sich das vorgestellt hat. Denn die schlimmste Hölle befindet sich in seinem Kopf. Das ist die Grundlage für Juan S. Guses „Lärm und Wälder“.

Vor allen anderen Dingen aber ist der Ort dieser Geschichte von großer Bedeutung. Guse lässt seinen Roman in einer südamerikanischen Gated Community spielen:ein Wohnkomplex mit ausgewählten Bewohnern und einer ausgeprägt panoptischen Struktur, ein soziales Gewissen im Miniaturformat, das – genauer besehen –, auf purer Zivilisationsangst gründet. Die Bewohner von Nordelta wissen, dass das Ende der Welt nahe ist, deshalb haben sie sich vom übrigen Gesellschaftsleben zurückgezogen. Diesem Sicherheitsversprechen ist auch Hector gefolgt: Mit seiner Frau Pelusa und den beiden Söhnen Ignacio und Henny ist er vor einigen Jahren in die Siedlung gezogen, um einer Bedrohung zu entgehen, die die Familie in ihrer einsamen Behausung in der Andengegend ereilt hat.

Aber auch in Nordelta sind die vier nicht sicher, denn in den Außenbezirken der Großstädte gibt es Unruhen, auf die jeder individuell reagieren muss: Hector beschließt, einen Bunker zu bauen, als die Situation immer beklemmender wird, Henny beginnt, im Dienste seiner wissenschaftlichen Neigung Tiere zu quälen, was wiederum seine Eltern beunruhigt, und Ignacio interessiert sich sehr dafür, wie er sich auf das nahende Desaster vorbereiten kann. Doch damit nicht genug: Die anderen Bewohner von Nordelta flüchten sich in bizarre Neurosen, die ihnen eine billige Form des Eskapismus bieten. Die Bedrohung dringt „von unterhalb der Realität“ an die Oberfläche: Plötzlich ist sie für keinen der Charaktere mehr Fantasie.

„Darüber sprechen sie oft, wie die Zivilisation zugrunde gehen wird.“ Das ist ein Schlüsselsatz des Romans und erklärt auch, weshalb sich lange kein großer Knall ereignet. Es geht Guse weniger um Suspense als um das Darstellen einer großen Vereinzelung. Denn alle Protagonisten sind mit ihrer Angst allein, auch wenn es gewisse Übereinstimmungen zwischen ihnen gibt. Besonders leicht lässt sich das an Henny nachvollziehen. Durch einen Unfall entstellt, ist er eine typische Außenseiterfigur mit Hang zum Bizarren: Er verliert sich in seinem naturwissenschaftlichen Streben und sieht Richard Nixon als sein historisches Vorbild. Vor allem dessen Moon-Disaster-Rede hat es ihm angetan. Damit schlägt Henny eine Richtung ein, die auch Guse wählt, der in einem Interview mit der Berliner Literaturzeitschrift „metamorphosen“ von einer literarischen Linie der „Kontrollsurrogate“ gesprochen hat: Wie erlebt der Mensch Bedrohungen und was tut er dagegen? In welchen Narrativen und Semantiken kommt der befürchtete Machtverlust zur Sprache?

Die Figuren des Romans beantworten diese beiden Fragen auf je eigene Art und Weise. Hector versucht, ganz im Sinne der griechischen Mythologie, die Katastrophe durch listige Einfälle abzuwenden, muss sich aber irgendwann eingestehen, dass er als moderner Held gescheitert ist. Pelusa flüchtet sich in die Literatur und schließt sich der angesprochenen Tradition an: Sie liest nicht nur Bücher norwegischer Autoren, die vom südamerikanischen magischen Realismus beeinflusst sind (möglicherweise Kjartan Fløgstads „Dalen Portland“), sondern auch Hanns Henny Jahnns „Perrudja“, das ja so ähnlich heißt wie sie. Diese Hinwendung zum größten Außenseiter der deutschen Moderne ist wohl kaum ein Zufall, zumal Guses Reverenz in Henny durchschimmert. Von seinen Mitschülern verkannt, ist Henny das kleine Genie, das das verdrehte agonale Prinzip in Nordelta durch ein Nixon-Zitat entlarvt: „I can take it. The tougher it gets, the cooler I get.“ Die Bewohner überbieten sich gegenseitig in der Vorbereitung auf das nahende Unheil und übersehen dabei, dass es ihre Imagination ist, die ihre Probleme schafft. Mit dem Herannahen der Unruhen flüchten sie sich in obskure prophetische Versprechungen und glauben, das Debakel noch abwenden zu können. Offenbar hat jedoch im Laufe der Handlung eine gesellschaftliche Spaltung stattgefunden, die nun auf die Begüterten und Mittelständler zurückschlägt. Aber niemand will diese sozialen Gefahren erkennen.

Guse entwirft mit seinem Roman das Tableau einer illusorischen Weltsicht. Zunächst scheint das Handeln der Charaktere extrinsisch motiviert: Da ist eine Bedrohung, auf die reagiert werden muss, und Krisenvorbeugung ist das Gebot der Stunde. Dahinter verbirgt sich jedoch ein blinder Aktionismus, dem die Protagonisten reihenweise zum Opfer fallen. Das Handeln um des Handelns willen verdrängt jedwede intrinsische Motivation, weshalb Konflikte innerhalb der Familien keine Hauptrolle mehr spielen können. Zwar sind Hector und Pelusa bestrebt, etwas gegen Hennys Vereinsamung und Tierquälereien zu unternehmen, aber es bleibt bei pädagogischen Parolen. Ab und an resultiert das Sprechen über Bedrohungen in konkreten Handlungen, etwa dann, wenn Hector einen Bunker baut. Doch jegliches Reden ist sinnentleert, weil es die Gefahren falsch in die Realität überträgt.

Mit all diesen Problematiken hat Guse seinem Roman eine schwere Last aufgeladen. Er kann nicht durch eine raffiniert verschraubte Handlung überzeugen, sondern muss sich auf die Kraft einzelner Szenen verlassen. Das gelingt besonders dann, wenn ein verschrobener Humor hinzukommt, etwa, wenn Hennys Eltern versuchen, mit ihrem Sohn über dessen Zukunft zu diskutieren, dieser aber gleich zwei Masken trägt: einerseits eine ganz konkrete, andererseits kommuniziert er nur über Nixon-Zitate. Diese Szene beschreibt Guse in einer kühlen, knappen Sprache, die besonders in den Dialogpartien an die übersteuerten Einfälle von David Foster Wallace erinnert. Trotzdem finden sich öfters Stilblüten wie „schwülstige Narbe“, „die um die Schultern geworfenen Köpfe“, „die ganzen Hausmeister, die sich aufgeknöpft haben“ oder „längs des Pools entlang“. Derartige Patzer schmälern etwas den Gesamteindruck, doch Spannung entsteht vor allem durch die vielen Perspektivwechsel. Eine vollständig in sich gekehrte, detaillierte Betrachtung eines einzelnen Protagonisten mag damit ausbleiben, Guse jedoch rettet seine Geschichte vor einer drohenden Eindimensionalität, indem er seinem fiktionalen Personal den Anschein eines Kollektivs verleiht, um dieses anschließend zu zerstören.

Doch es wäre falsch, „Lärm und Wälder“ als plumpe literarische Antwort auf politische Überwachungssysteme zu lesen. Dafür ruft Guse zu viele Ambivalenzen auf den Plan. Sind es innerhalb einer Gemeinschaft die Einzelnen selbst, von denen die größte Gefahr ausgeht? Oder ist es doch die florierende Prepping-Industrie, die Ängste schürt, wo gar keine sind? Guse expliziert beide Diskurse in einer intrinsischen und extrinsischen Motivation seiner Charaktere. Aber er liefert noch einen literarischen Diskurs dazu, der von Knut Hamsuns Einsiedlergeschichten bis zu Foster Wallaces kühl-pathetischen Gesellschaftsanalysen reicht und ordnet sich damit in eine Poetik der Zivilisationsangst ein.

Titelbild

Juan Guse: Lärm und Wälder. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
317 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024343

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