Entfesselte Dummheit

Über ein erschütterndes Chiemgauer Tagebuch aus dem Nationalsozialismus

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Innere Emigration

Der 1884 auf dem ostpreußischen Familiengut Malleczewen geborene, nach erfolgreichem Medizinstudium ab 1912 in Bayern lebende Friedrich Reck ist heute so gut wie unbekannt. Seine Jugendbücher sind ebenso vergessen wie seine Abenteuerromane, Novellen und Biografien, und kaum jemand wird sich an den Film Bomben auf Monte Carlo mit Hans Albers und Heinz Rühmann erinnern, gedreht nach dem mit Abstand erfolgreichsten von Recks Romanen. Das war 1931. Zwei Jahre später zieht der bisweilen reichlich exzentrisch auftretende Schriftsteller von München-Pasing hinaus auf das Bauerngut Poing bei Truchtlaching im Chiemgau. Er konvertiert zum Katholizismus, heiratet 1935 ein zweites Mal und beginnt mit einem Werk, das er als seinen „Beitrag zur Kulturgeschichte des Nazismus“ versteht. Weil Reck weiß, dass ihm sein Schreiben um Kopf und Kragen bringen kann, vergräbt er die Aufzeichnungen unter seinen Poinger Äckern – und so überleben sie das Kriegsende. Ende 1944 wird Friedrich Reck-Malleczewen denunziert und verhaftet, wenige Wochen später ist er tot. Es gibt unterschiedliche Versionen über die Art seines Sterbens. Unstrittig ist der Todesort: das Konzentrationslager Dachau. Sein zuerst 1947 erschienenes Tagebuch eines Verzweifelten, das später den Untertitel Zeugnis einer inneren Emigration erhielt, hat nicht allein in der Bundesrepublik Deutschland bewundernde Leser gefunden, wie Peter Czoik in seinem kundigen Nachwort zur Neuausgabe in der „edition monacensia“, der ersten seit mehr als 20 Jahren, den Leser unterrichtet.

Hass und Stil

Friedrich Reck-Malleczewen, den man als aufrechten, bis ins Mark konservativen Monarchisten bezeichnen darf, hasst die Nationalsozialisten und vor allem Adolf Hitler, diesen „aus Kehricht und Jauche gefertigten Mißgeborenen“ mit seiner „Exkrementalvisage“, geradezu abgrundtief. Er sieht sich selbst als patriotischen Deutschen, der erkennen muss, dass das Dritte Reich „eine Karikatur Deutschlands ist, hingesudelt von einem boshaften Affen, der sich von der Kette losgerissen hat“, und der daraus schließt, „dass man dieses Deutschland von ganzem Herzen hassen muß, wenn man es wirklich liebt“. Er verachtet die vielen konturlosen Mitläufer, die widerstandslos zu kleinen Rädchen in einem mörderischen System werden. Und ein wenig verachtet er auch sich selbst, der sich in seiner Verzweiflung nur durchs Schreiben am Leben halten und sich nicht – wie die bewunderten Akteure der „Weißen Rose“ – zu aktiveren Widerstandsformen aufraffen kann. Er hasst das Preußische, auch das „ehedem so fröhliche und elegante“, nun aber von den Preußen besetzte München, und er hasst die Reichshauptstadt mit ihrer wichtigtuerischen, in Wahrheit aber substanzlosen Tüchtigkeit: „Ich glaube an einen hysterischen Betätigungsdrang, der wahrscheinlich die Flucht vor der Erkenntnis der eigenen Seelenlosigkeit bedeutet“. Ihn ekelt vor dem „Gehabe und Getue all dieser Buchhalter, Patentanwälte und Lotteriekollekteure, die mit der dreifach verschlossenen und schon symbolisch geschlossenen Aktentasche sich das Air von Gesandtschaftsattachées geben und dabei in diesem Ledertresor doch nur drei kümmerliche Käsesemmeln mit sich führen“.

Er hasst und hasst – oh, man könnte ewig zitieren – und läuft dabei immer wieder zu Höchstform auf, stilistisch und sprachlich. Was, von allem Inhaltlichen abgesehen, die Lektüre des Tagebuchs zu einem großen Erlebnis macht. Denn das Deutsch dieses Friedrich Reck-Malleczewen ist sensationell gut, auch das ‚Hassdeutsch‘ – nicht nur im Vergleich zu vielen heutigen Autoren, sondern auch im Vergleich zu manch wahrhaft großem Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Woher aber der Hass? Peter Czoik schreibt: „Fragt man nach den geistigen Hintergründen von Reck-Malleczewens Hassausprägung, nach seiner Weltanschauung, so kommt in seinen Aufzeichnungen immer wieder die kulturpessimistische Kritik an den Entfremdungsprozessen der modernen Industriegesellschaft klar zum Ausdruck. Ziel seines Angriffs ist der durchtypisierte Massenmensch.“ Nicht nur in seinem Hass und seiner Wut, mehr noch in seiner Privatideologie und seinem ungewöhnlichen, unter anderem vom Kanzleistil des 19. Jahrhunderts beeinflussten Schreibstil hat er einiges gemeinsam mit Heimito von Doderer, der, 1933 bis 1938 Mitglied der NSDAP, 1936 bis 1938 ebenfalls in Bayern lebte. Beide Schriftsteller schätzten übrigens die Zeitdiagnosen von José Ortega y Gasset, der mehrfach mit dem „modernen Massenmenschen“ abrechnete – träge, egoistisch, oberflächlich, profillos und fremdbestimmt sei der – und 1930 mit La rebellión de las masas (dt.: Der Aufstand der Massen, 1931) eine Art Bibel aller geistesaristokratisch und antidemokratisch Gesinnten vorlegte.

Korrekt im heutigen Sinne lesen sich die entsprechenden Tiraden wahrlich nicht: „Der Massenmensch ist in seinen seelischen und körperlichen Lebensbedingungen abhängig vom Fluidum der Verniggerung und des Troglodytismus“. Das würde heute bestimmt niemand mehr so sagen – man versteht aber doch noch, was gemeint ist: mangelndes Profil, fehlende Courage, geduckte Persönlichkeit.

Zeitkritik und Wut

Noch 1937 kann der Chiemgauer Literat sein Werk über die Herrschaft der Münsteraner Wiedertäufer im frühen 16. Jahrhundert publizieren: Bockelson, Geschichte eines Massenwahns. Die grauenhaften Gemeinsamkeiten zwischen Wiedertäufern und Drittem Reich sind offenkundig, und auch im Tagebuch spielen sie eine wichtige Rolle. Ausflüge in die Geschichte gibt es öfters, noch häufiger aber Kommentare zum Zeitgeschehen und bissige Bemerkungen über Zeitgenossen, etwa über Max Schmeling – ein Idol seiner Zeit, gewiss, und doch nur ein „Preisboxer“. Den österreichischen Kollege Bruno Brehm stellt Reck als verachtenswertes Beispiel der nationalen „Besoffenheit der Dichter“ bloß, und nicht nur Hans Pfitzner, „dieser mühevolle Zusammenbastler der amusischsten mir bekannten Musik“, kriegt sein Fett ab. Über Wilhelm Furtwängler heißt es lakonisch: „Man kann nämlich auch blond dirigieren“. Von herzzerreißender Empathie sind die anrührenden Zeilen über den an seinem Exilort Shanghai gestorbenen Dichter und Arzt Max Mohr, aber auch Passagen über unbekannte Opfer des Regimes – die Geschichte der durch die Skrupellosigkeit eines habsüchtigen Schauspielers aus ihrer Wohnung in der Münchner Maximilianstraße herausgeekelten jüdischen Dame und ihres stilvollen Suizids gehört zum Bedrückendsten dieses an Düsternis nicht armen Tagebuchs.

Die Skandale und Skandälchen der NS-Führungsclique werden süffisant kommentiert. Und immer wieder Hitler: Das Geschehen im Bürgerbräukeller wird ebenso erwähnt wie Eva Braun, bei der sich der „Gröfaz“ ausweinen durfte, „gewissermaßen an ihrem blonden Busen“. Auch „all die zahnbürstenblonden Ingrids, Wibkes, Astrids, Gudrunen und Isolden“, die ihrem Führer hinterlaufen, werden immer wieder Objekte der Zornesblitze des Diaristen. Über den Jahr für Jahr wachsenden Anpassungsdruck und die Alltagsrepression im NS-Regime notiert Reck-Malleczewen: „Daß es dies alles, diese Überflutung der Welt mit Neandertalern, gibt, ist das Unerträgliche nicht. Das Unerträgliche ist, dass diese Horde von Neandertalern von den wenigen noch vollwertigen Menschen verlangt, sie sollen gefälligst ebenfalls Neandertaler werden, und dass sie die Weigerung mit der physischen Vernichtung bedroht“. In seiner in den Kriegsjahren ins Grenzenlose wachsenden Verzweiflung vermisst der allem Republikanischen abholde Konservative sogar seine Gegner von früher: „Ihr fehlt mir und fehlt mir auch dann, wenn Ihr, wie es ja mit den meisten von Euch der Fall gewesen ist, meine Opponenten und politischen Gegenspieler wart – oh, glaubt mir, ureigentlich ist es die aus dem Fehlen jedweder Opposition und jedweder Reibung sich ergebende tödliche Langeweile, die das Leben in diesem Staate so unerträglich macht.“

Reck lesen!

Einen Grund für die große Beliebtheit des Tagebuchs sieht der Londoner Germanist Rüdiger Görner darin, dass „in ihm relativ wird, was als literarisch gelten kann und was nicht“. Die Schreibintention allein entscheide darüber nicht, schreibt er in seinem Standardwerk Das Tagebuch (1986). „Die Qualität eines Tagebuchs hängt ebenso von der Fähigkeit des Diaristen ab, Reflexionen aus bestimmten Erlebnissen hervorgehen zu lassen. Dieser Vorgang muss für den Leser nachvollziehbar sein und anschaulich genug bleiben, um ihm Assoziationsmöglichkeiten zu bieten“. Wenn das stimmt, dann halten wir mit dem Tagebuch eines Verzweifelten ein Werk allerhöchster Güte in Händen. Was Reflexion des Erlebten, Nachvollziehbarkeit und Anschaulichkeit angeht, wird man kaum ein ergreifenderes Diarium über die Zeit vom Mai 1936 bis zum Oktober 1944 finden. Es ist, bei aller Erschütterung und Bitternis, die es im Leser auslösen wird, ein schlechthin überwältigendes Leseerlebnis. Auch wenn manche Erläuterungen oder Nicht-Erläuterungen befremden mögen – muss man dem Leser wirklich erklären, wer die Geschwister Scholl waren, während man voraussetzt, dass er den „Beveridgeplan“ kennt? –, festzuhalten bleibt: Die Neuausgabe des Tagebuchs eines Verzweifelten ist uneingeschränkt zu begrüßen. Und Friedrich Reck-Malleczewen sind massenhaft Leser zu wünschen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 29.9.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Friedrich Reck-Malleczewen: Tagebuch eines Verzweifelten. Zeugnis einer inneren Emigration.
Allitera Verlag, München 2015.
199 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783869067070

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