Navigare necesse est

Mark H. Gelber und Birger Vanwesenbeeck eröffnen neue Perspektiven auf Stefan Zweigs Werk

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Stefan Zweig 1942 im brasilianischen Petropolis Selbstmord beging, hinterließ er folgende Notiz: „So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen. Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“

Zeitlebens mit welthistorischen Ereignissen konfrontiert, denen er wie die meisten seiner Zeitgenossen nicht gewachsen war (die er aber in seinen Werken meisterhaft verarbeitete), immer auf der Flucht, immer und – wie er selbst sagte – „überall Fremder und bestenfalls Gast“, freundlich, friedliebend und hochsensibel, schied Zweig freiwillig aus einem unglückseligen Jahrhundert, das ihn noch post mortem schmähen und verteufeln sollte. Der Katalog der Verdrehungen, Verzerrungen und regelrechten Verleumdungen Zweigs – angefangen von einer so illustren Zweig-Kritikerin wie Hannah Arendt – zieht sich noch bis ins 21. Jahrhundert hinein und gipfelt in Michael Hofmanns furioser, bösartiger und geschmackloser Besprechung der „Welt von Gestern“ in der „London Review of Books“ vom 28. Januar 2010.     

Dennoch – und nach der „langen Nacht“ solcher Anfeindungen – zeichnet sich für Zweig seit einigen Jahren eine neue „Morgenröte“ ab. Zusätzlich zur Gründung des Stefan Zweig Centre in Salzburg sind mehrere neue Publikationen erschienen – Biografien, Sammelbände, Übersetzungen, Aufsätze und sogar ein Roman –, deren intellektuelles und schriftstellerisches Niveau dem Autor ebenbürtig ist und Schmäher wie Hofmann mühelos disqualifiziert. Der vorliegende, von Mark H. Gelber und Birger Vanwesenbeeck herausgegebene Band „Stefan Zweig and World Literature. Twenty-First-Century Perspectives“ stellt sich ebenfalls in diese Reihe und zielt auf die umfassende Rehabilitierung Stefan Zweigs via Einführung neuer und bisher vernachlässigter Perspektiven bei der Betrachtung des vielseitigen und umfangreichen Œuvres dieses Autors ab.

Innovativ ist der Band vor allem dadurch, dass er in mehreren Beiträgen den „großen Europäer“ Zweig aus der verengten eurozentrischen Perspektive herausführt, in das Konzept der Weltliteratur einschreibt und als „globalen Autor“ restituiert. Bereits in ihrer Einleitung machen die Herausgeber Gelber und Vanwesenbeeck auf die Polyvalenz der Zweig‘schen Werke aufmerksam: auf ihre Fähigkeit, sich über nationale Besonderheiten und Unterschiede hinwegzusetzen, nationale Grenzen zu überschreiten, kurzum auf ihren „worldwide appeal“. Erhellt wird dieser besondere Charakter der Texte auf mehreren Ebenen – Drama und Erzähltexten, Kritiken und Essays, politischen Ideen und bezüglich des Lebens im Exil. Besprochen und behandelt werden die zahlreichen und mannigfaltigen Rollen Zweigs – als Autor, Übersetzer, Herausgeber und Kulturvermittler. Der Band selbst geht auf das internationale Symposium „Stefan Zweig’s Transatlantic Connections“ zurück, das 2009 an der State University of New York in Fredonia stattgefunden hat.

Die Reise auf Zweigs transnationalen Spuren ist eine spannende und weltumspannende. Neben der kontinuierlichen Verbreitung und regen Rezeption Zweigs in China, Russland und Osteuropa sowie neben seiner Zuwendung zu Asien werden vor allem sein Besuch in Argentinien (von Robert Kelz) sowie sein Leben und seine Einstellung zu Brasilien besonders hervorgehoben (von Darién J. Davis, Marlen Eckl und Klemens Renoldner). Eine von Marlen Eckl zitierte Aussage gibt Zweigs Begeisterung für Rio Ausdruck:

Angelangt in Rio, das phantastische und anstrengendste Märchen mitmachend, das sich erdenken lässt… Es ist zum Tollwerden großartig, aber ich werde zerstückelt, zerrissen. Ich nehme täglich ein Kilo ab, aber Brasilien ist unglaublich … Die Schönheit, die Farbigkeit, die Herrlichkeit dieser Stadt ist unbeschreiblich … Die Menschen bezaubernd … und eines ist sicher, das ich nicht das letzte Mal hier war.

Zugleich nimmt uns der Band mit auf eine Reise in die Tiefe – in die Abgründigkeit von Zweigs Seele, in die Philosophie des Kosmopoliten, die seine Texte in den Rang der Weltliteratur erhebt. Zweig erfüllt die Kriterien von Johann Wolfgang von Goethes Definition von Weltliteratur, seine Schriften fügen sich ebenso in die neuere Definition von David Damrosch ein, nach der die Weltliteratur jenseits der Grenzen der Literatur des Herkunftslandes des Autors in der Originalsprache oder in Übersetzungen „zirkuliert“. Vor der imposanten, aber eher heiter-gemütlichen Folie von Goethes Begeisterung für den „geistigen Handelsverkehr“ verschiedener Völker sowie vor der Folie des neumodischen, fast technokratisch anmutenden Begriffs „glocalism“ sticht Zweig jedoch mit seiner spezifischen Prägung heraus. Wie sein Freund Siegmund Warburg (zitiert von Jeffrey B. Berlin) schrieb: „Sein Idealismus bedeutete nicht den Glauben an irdischen Fortschritt, sondern die feste Überzeugung von der ewigen Macht irrationaler Kräfte und Werte, die unabhängig von äusseren [sic] Siegen oder Niederlagen ihren Ausdruck finden in guten Taten, in künstlerischen Schöpfungen, und vor allem in den Gestalten grosser [sic] und edler Menschen.“

Und so präsentiert Zweigs Werk eine Welt voller Rastlosigkeit und Leidenschaft, ein Drama von Dissonanz, Schmerz und Trauma bei gleichzeitiger emphatischer Lebensbejahung und Ehrfurcht vor den Geheimnissen der menschlichen Schöpferkraft – und hiermit eine andere, tiefere Dimension des Begriffs Weltliteratur. Während man in der bisherigen Forschung den Akzent fast ausschließlich auf die privilegierte Stellung des „Trivialautors“ Stefan Zweig gesetzt hat, verweist nun Darién J. Davis zu Recht auf dessen Ambivalenzen und „Liminalität“ (siehe außerdem Birger Vanwesenbeeck über Zweigs Situierung „between places“), und Richard V. Benson betont die Schwierigkeiten sowie den „transnationalen“ Charakter des Zweigschen Konzepts von „Heimat“. Zweig entkommt zwar den meisten Fallen der Wiener Fin-de-siècle-Dekadenz, der „Versuchsstation des Weltuntergangs“ (Karl Kraus), er setzt sich aber mit Hilfe einiger ihrer ästhetischen Kategorien – etwa der Leere (siehe die Einleitung von Gelber und Vanwesenbeeck), der Deplatzierung oder des Bruchs (siehe den Beitrag Robert Weldon Whalens) – erfolgreich der weltweiten Kommerzialisierung der Kultur und der von ihm heftig kritisierten „Monotonisierung der Welt“ entgegen.

Nicht zuletzt zeigt der Aufsatz von Jeffrey B. Berlin „The Writer’s Political Obligations in Exile. The Case of Stefan Zweig“, dass Zweig keineswegs ein apolitischer Autor war, wie seit Hannah Arendt völlig unkritisch behauptet wurde. Neben der Ausweitung Zweigs ins Globale liegt ein besonderes Verdienst des Bandes in der kritischen Abrechnung mit vielen jahrelang tradierten Vorurteilen gegen Zweig. Gleichwohl werden einige Schwächen des Autors auch nicht verschwiegen, beispielsweise sein Formkonservatismus (etwa im Beitrag von Geoffrey Winthrop-Young). Außerdem wird die behauptete ‚Globalität‘ Zweigs von Mark H. Gelber in seinem Beitrag „Stefan Zweig and the Concept of World Literature“ einer differenzierten Betrachtung unterzogen: „He never really managed to break out of the European framework or to distance himself from it sufficiently in order to embark on a more globally oriented career within the framework of world literature.“ Gelber plädiert angesichts dieser Feststellung für eine Aufwertung und Neubeleuchtung der Rolle Zweigs vor allem als Kulturvermittler.     

Der vorliegende sehr facettenreiche und vorzügliche Band wurde von den Herausgebern ausdrücklich unter das von Zweig selbst in seiner Magellan-Biografie benutzte, vom römischen Feldherrn Pompeius ins Leben gerufene Motto „Navigare necesse est“ (Seefahren ist notwendig) gestellt. Damit kennzeichnen sie Zweigs Werk eindrücklich als eine Ausfahrt in die Turbulenzen globaler Themen und Probleme – auch auf der von ihm eröffneten Tiefendimension der Weltliteratur – und geben den Auftakt zur Weitererforschung der „Panhumanität“ des Zweig‘schen Universums.

Titelbild

Birger Vanwesenbeeck / Mark H. Gelber (Hg.): Stefan Zweig and World Literature. Twenty-First Century Perspectives.
Camden House, Rochester, New York 2015.
266 Seiten, 90,00 EUR.
ISBN-13: 9781571139245

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch