Immer noch ein Künstlermythos?
„Modigliani und seine Zeit“: Eine neue Monographie analysiert das Werk des „letzten Bohemien“
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts fand man noch Geschmack am Bohemeleben, das das 19. Jahrhundert gezüchtet hatte, und hier in Paris, auf dem Montmartre und im Montparnasse, wurden die letzten Blüten dieser Welt von einigen verfeinerten und verwöhnten Söhnen des alten Bürgertums vertreten“. So berichtete der deutsche Expressionist Ludwig Meidner und fügte hinzu: „Unser Modigliani […] war ein charakteristischer und gleichzeitig hochbegabter Vertreter der Boheme vom Montmartre; wahrscheinlich sogar der letzte echte Bohemien“.
Obwohl er sich fast ausschließlich der menschlichen Figur widmete – in Porträts und subtil erotischen Aktdarstellungen, Zeichnungen und idolhaften Skulpturen –, hat Amedeo Modigliani nur ein einziges – authentisches – Selbstbildnis 1919, ein knappes Jahr vor seinem Tod, geschaffen. Hier sitzt der Künstler mit der Palette in der Hand vor der leeren Staffelei und schaut aus pupillenlosen Augen geistesabwesend in die Ferne. Zwar irritieren die Morbidität, die Zerbrechlichkeit seines Körpers, die düster-sonoren Farben des Bildes, doch eigentlich weist sonst nichts auf sein durch Krankheit, Armut, Alkohol und Haschisch zerstörtes Leben hin. Es war sein letztes Bild – bald darauf wird er einer tuberkulösen Hirnhautentzündung erliegen. Und seine Geliebte, Jeanne Hébuterne, mit der er bereits eine kleine Tochter hatte, wird ihm den Tag darauf, im achten Monat schwanger, in den Tod folgen.
Dichtung und Wahrheit haben an der Legende seines Lebens gestrickt. Schon die Zeitgenossen haben in ihren Erinnerungen sein tragisches Schicksal idealisiert, es sind Biografien und Romane über ihn geschrieben worden und auch der 1958 gedrehte französische Film „Montparnasse 19“ mit Gérard Philipe in der Hauptrolle hat zum Nimbus dieses Künstlers beigetragen. Der Mythos des Künstler-Bohemiens hat sich bis heute erhalten, obwohl schon Jeanne Modigliani, die Tochter Jeannes und Amedeos, ein von allen Legenden unbelastetes Bild ihres Vaters zu zeichnen suchte und kunsthistorische Monographien und Ausstellungen in den letzten Jahrzehnten gegenzusteuern und ein wirklichkeitsgetreues Bild zu zeichnen suchten.
Der Kunsthistoriker Norbert Wolf, der schon Monografien über Albrecht Dürer, Hans Holbein den Jüngeren und Tizian, aber auch Überblickswerke über die Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts veröffentlicht hat, legt jetzt eine neue Modigliani-Monografie vor. Er geht von dem Widerspruch zwischen einem maßlosen, chaotischen Leben des Künstlers und einem ganz auf die Form konzentrierten Werk aus, das stets am Ideal formaler Schönheit und an einer harmonischen, fast klassisch anmutenden Beherrschtheit orientiert ist. Trotz des ausschweifenden Lebens hat Modigliani in hingebungsvoller Arbeit ein bedeutendes, ein konsequent und gewissenhaft erarbeitetes Œuvre geschaffen.
Wichtig ist der Hinweis Wolfs auf eine Affinität Modiglianis zum Art déco, zu einer Stilströmung also, die die Schönheit – anstelle des von der Avantgarde inszenierten Schocks – in Kunst und Design wiederherzustellen suchte. Bei seiner Suche nach dem Schönen strebte Modigliani nach dem „unvergänglichen“ Ausdrucksgehalt der Form – die Kunst der alten Meister, aber auch die Archaik und die exotischen Kulturen halfen ihm dabei –, ohne sich allerdings mit Formalismen zu begnügen. Er glaubte bedingungslos an die Schönheit der menschlichen Gestalt. Seine Figuren sind von einer vitalen, wenn auch verfeinerten Sinnlichkeit. „Sensualismus im Leben und Sensualismus in der Kunst fanden zu harmonischem Einklang zusammen“, konstatiert Norbert Wolf.
In den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts und zumal in der Pariser Szene übernahm diese fast „klassisch“ anmutende Formkonstanz eine oppositionelle Rolle, stand im Widerspruch zu den hektischen Innovationsschüben der jeweiligen Avantgarden (Fauvismus, Kubismus, Futurismus, Surrealismus, abstrakte Kunst, art concret und anderen). Die leichte Identifizierbarkeit seines Personalstils – so Wolf – war markanter Ruhepunkt und zugleich auch Kontrapunkt in dieser von Reizen überfluteten Kunstperiode. Der Künstler wurde mit den aufregendsten Stil-Innovationen konfrontiert. Im Zentrum der europäischen Avantgarde, dort, wo ihm ständig Pablo Picasso, Georges Braque, Henri Matisse, Chaim Soutine oder Constantin Brancusi begegneten, verfolgte Modigliani unbeirrt seinen eigenen Weg. Statt den Stiltendenzen der Avantgarde zu folgen, griff er zurück auf die italienische Kunst der Renaissance, auf Tizian und Giorgione, auch auf die barocke und spätbarocke Bildniskunst sowie die Aktbilder von Francisco de Goya und des französischen Spätklassizisten Jean-Auguste-Dominique Ingres. Diese Traditionsbindung, die im Gegensatz zu der Innovationssucht der Avantgarden steht, bezeichnet Wolf als eine „Poetisierung der Kunst“.
Nach Studien an den Akademien von Florenz und Venedig und beeindruckt von den Arbeiten Henri de Toulouse-Lautrecs, wurde Modigliani 1906 von Paris angezogen, wo er in verschiedenen Wohnungen beziehungsweise Ateliers auf dem Montmartre lebte. Großen Eindruck machten auf ihn die Werke Paul Cézannes, dem im Salon d’Automne kurz nach seinem Tod eine Gedächtnisausstellung gewidmet wurde. „Der Cellist“ von 1909 ist ein treffendes Beispiel dafür, dass Modigliani die Grundprinzipien Cézannes zum Vorbild nahm: Die Flächenbindung des Sujets und die Durchtränkung der Flächenmuster mit raumbildenden Modellierungen verschmelzen hier zur unauflösbaren Einheit.
Modigliani beeindruckte der Symbolismus und die Verrätselung der Inhalte, die seiner poetischen Neigung entgegenkamen.1909 übersiedelte er auf den Montparnasse, das Viertel, das nun neben dem Montmartre eine große Anziehungskraft auf die Künstler ausübte. Es war Constantin Brancusi, der ihn jetzt zu bildhauerischer Arbeit anregte und ihn auch auf die afrikanische Plastik hinwies, deren Einfluss auch auf seinen Malstil unverkennbar ist. Modigliani, der die modellierte Plastik eines Auguste Rodin – und jeden darstellerischen Illusionismus überhaupt – kategorisch ablehnte, verdankte sein Prinzip elementarer Stilisierung dem Rumänen, wollte aber keineswegs auf Gegenständlichkeit verzichten. Seine Skulpturen sollten zwar keine individuelle, aber doch ideelle, zeitlose Schönheit besitzen. Diese Köpfe aus Stein in idolhafter Strenge, stelenhaft geformt, mit einer reliefartigen Oberflächenstruktur der „blicklosen“ Gesichter – wo kommen sie her? Seine Karyatiden, seine weiblichen Stützfiguren, sind – so Wolf – nicht so sehr vom Primitivismus der afrikanischen tribal art beeinflußt, sondern wohl eher von der ostasiatischen Kunst. Wollte Modigliani seine bildhauerischen Werke, vor allem seine Karyatiden, wie Wolf vermutet, in einem „Tempel der Schönheit“ als „Gesamtkunstwerk“ der Nachwelt hinterlassen?
Diese bildhauerische Phase – von 1909 bis 1914 – währte nur kurz. Modigliani hat wohl für seine Skulpturen noch weniger Käufer gefunden als für seine Bilder. Aber das bildhauerische Zwischenspiel diente doch der Weiterentwicklung seiner Malerei, der Entfaltung klarer geometrisch-stereometrischer Figurationen und eines ruhigen tektonischen Bildaufbaus. Wolf zitiert zustimmend Dan Franck (2011), dass die während des Ersten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit entstandenen Bilder Modiglianis „eine Spur unerfüllter Sehnsucht für immer in sich tragen: Sie wirken wie auf Leinwand gebannte Skulpturen. Die reinen Formen, die länglichen Gesichter und Büsten, die gestreckten Arme, Hälse und Körper erinnern sehr an seine […] gemeißelten Köpfe“.
Ab 1914/15 entstanden zahlreiche Porträts seiner Künstler- und Schriftstellerfreunde, so von Diego Riviera, Henri Laurens, Pablo Picasso, Chaim Soutine, Juan Gris, Max Jacob, Jean Cocteau und anderen, sowie Frauenbildnisse in dem für ihn so typischen Stil mit seinen vereinfachten Umrisslinien und überlängten Köpfen und Körpern.
Um 1916/17 setzte dann eine weitere Vervollkommnung der Malerei Modiglianis ein, die – so heißt es übereinstimmend in der Modigliani-Literatur – zu seinem künstlerischen Höhepunkt wurde. Es gelang ihm, die Farbgestaltung seiner Bilder durch dünne, gleichmäßig aufgetragene Lasuren zu sublimieren und hinsichtlich des Gesamteindrucks effizienter einzusetzen. Bereits das Gemälde „Madame Pompadour“ von 1915 hat eine Linieneleganz und eine Strategie des Repräsentativen, die sich an barocke Vorbilder anlehnt. In dem Doppelporträt von „Jacques Lipchiz und seiner Frau“ von 1917, eigentlich ein Hochzeitsbild, hat der Maler in der Distanziertheit der beiden Porträtierten gerade die artifiziell-dekorativen Werte des Motivs herausgestrichen.
1918 in Südfrankreich, im Licht der Côte d’Azur, malte er dann Porträts von Modellen aus dem Volk, stämmige Bauernburschen, junge Dienstmädchen, Kinder und alte Menschen. In seinen beiden letzten Lebensjahren kamen auch Bildnisse mondäner Damen und eleganter Herren hinzu, die zum unverwechselbaren Kennzeichen seines Figurenstils geworden sind: extrem gelängte „Schwanenhälse“, mandelförmige Augen, eine Mischung aus Eleganz und Introvertiertheit.
Den Freunden und Mäzenen Modiglianis, Paul Alexandre, Paul Guillaume, Léopold Zborowski und dessen Frau Anna, die der Künstler in vielen ausdrucksvollen Bildnissen festgehalten hat, widmet Wolf ebenso seine besondere Aufmerksamkeit wie auch den beiden großen Liebesbeziehungen im Leben Modiglianis, Beatrice Hastings und Jeanne Hébuterne – die eine mondän und selbstbewusst, die andere zart und zerbrechlich, hingebungsvoll dem Künstler bis in den Tod verbunden. Wenn Modigliani von der „stummen Lebensbejahung“ in seinen Porträts gesprochen haben soll, dann sieht Wolf diesen Hinweis in Zusammenhang mit dem Aspekt des „Instinktiven“ in der Philosophie Henri Bergsons und dem Konflikt des Elan vital mit dem rationalen Bewusstsein. Das Instinktive habe sich in den Porträts als Lebensprinzip artikuliert, das alles rein Individuelle in den Hintergrund drängt, um eben ein zeitenthobenes, überpersönliches, ins eigene Sein versunkenes Wesen zu veranschaulichen.
In Modiglianis Aktbildern sieht Wolf einen Hymnus auf die Schönheit des weiblichen Körpers, auf die Schönheit überhaupt. Der Analyse Emily Brauns folgend, habe Modigliani die verkürzte Perspektive im querrechteckigen Format eingeführt, durch die sich die Nacktheit demonstrativ entfaltet. In Giorgiones „Schlafender Venus“ befindet sich der Akt im Bildmittelgrund, vom Auge des Betrachters sozusagen durch einen „Schicklichkeitsabstand“ getrennt. Modigliani dagegen, so Wolf, engt den Bildausschnitt zum Close-up ein, wodurch die nackte Frau dem Betrachter optisch möglichst nahe rückt.
Der Rezeption Modiglianis ist das letzte Kapitel vorbehalten. Hier fasst der Autor die Legendenbildung, die Sammlungen, Ausstellungen und den Kunstmarkt, die Fälschungen der Bilder Modiglianis und die Wirkung des Künstlers heute knapp, aber präzise zusammen.
Der Band besticht durch seine groß- wie kleinformatigen Abbildungen, an denen der Leser die Interpretationen des Verfassers nachverfolgen und auch seine eigenen Entdeckungen vollziehen kann. Vor allem aber muss der gut recherchierte, den neuesten Stand der Modigliani-Forschung widerspiegelnde und auch viele neue Erkenntnisse einbringende Text hervorgehoben werden, der auch für den Laien verständlich und anregend geschrieben ist.
|
||