Epilepsie in ungesichertem Gelände

Ein Schlüsselwerk des russischen Philosophen Lew Schestow überzeugt durch Sprachkraft und gedankliche Virtuosität zugleich

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits in seinen frühen Werken zeichnete sich Lew Schestows (1866-1938) Leidenschaft für das verquere Denken ab. Anfänglich anhand von Schriftstellern wie Fjodor M. Dostojewskij, William Shakespeare oder Lew Tolstoj arbeitete sich Lew Schestow in unermüdlichem Temperament auf ungesichertes Gelände vor. Die großen Philosophen las er ebenso gegen den Strich, wie er Figuren der Weltliteratur beim Wort nahm, als handelte sich um eigenständige Autoren.

Mit dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber war er befreundet, und Schestows Nachruf auf seinen philosophischen Kollegen Edmund Husserl liest sich nachgerade wie eine Hinführung zu dessen Lebenswerk, obwohl Husserls phänomenologischer Ansatz einer Philosophie als exakter Wissenschaft das diametrale Gegenteil von Schestows Denkwelten darstellte.

Der Hinweis des Apostel Paulus, dass das Erlösungswerk Christi bei den Juden als Ärgernis und bei den Griechen als Torheit galt, musste die Aufmerksamkeit Schestows geradezu zwangsläufig auf sich ziehen. Ein Retter der Menschheit, der als Sohn Gottes elend am Kreuz stirbt, stellt bis heute eine Herausforderung dar. 

Schestows Schriften beindrucken durch ihre fesselnde Sprachkraft und sind zugleich von Paradoxien und Provokationen geprägt. Das systematische Denken in sich geschlossener philosophischer wie ideologischer Denkgebäude deklassierte er als geronnene Formationen kultureller Unterdrückung, logische Schlüsse entlarvte er als gelehrig verbrämte Versuche einer geistigen Versklavung.

Dass Schestows Werk „Apotheose der Grundlosigkeit“ erst nach über hundert Jahren in deutscher Übersetzung vorliegt, prangert der Herausgeber und Übersetzer Felix Philipp Ingold zu Recht als eine der „Merkwürdigkeiten der internationalen Schestow-Rezeption“ an. Andere seiner Werke waren in Deutschland vor allem in den 1920er-Jahren in Übersetzungen erschienen. Vor allem in Frankreich, wo er als Professor an der Pariser Sorbonne unterrichtete, lässt sich Schestows Wirkung auf existenzialphilosophische Denker und in der absurden Literatur nachweisen.

Wie andere religionsphilosophischen Denker waren auch Schestows Anstöße von den Bolschewisten in seiner russischen Heimat verdrängt und zertreten worden, seit 1921 lebte er im französischen Exil. Das Aufkommen des Faschismus in Europa tat ein Übriges. Mit lähmendem Entsetzen hatte Schestow noch kurz vor seinem Tod den deutschen Nationalsozialismus zur Kenntnis genommen.

Die vorliegende Ausgabe vereint neben den beiden Teilen der „Apotheose der Grundlosigkeit“ die Gedankensammlungen „Vorletzte Worte“, „Philosophie und Erkenntnistheorie“ sowie Schestows „Gedankentagebuch“. Ein ausführlicher Essay des Herausgebers sowie eine Chronologie zu Leben und Werk Lew Schestows ermöglichen einen authentischen Zugang zu diesem ungewöhnlichen Denker. Felix Philipp Ingold, der sich seit Jahrzehnten um Zugänge zur russischen Kultur bemüht, lässt mit dieser Ausgabe den Leser an einer reichhaltigen Ernte teilnehmen.

Wer bereits alles weiß und es sich in seinem Weltbild wohlig eingerichtet hat, wird Schestows Texte, die Ingold treffend mit „Mikroessays“ bezeichnet, vergleichsweise wenig abgewinnen können. Schestow bevorzugt den Blick in jähe Abgründe und scheut auch den freien Fall nicht. Den zu den existentialistischen wie auch religionsphilosophischen Denkern zugeordneten Schestow kennzeichnet ein verstörendes wie im höchsten Maße faszinierendes Nachdenken, das keine billigen Antworten bereithält:

Warum nur erheben die Metaphysiker Anspruch auf allgemeine, zwingende, feste und ewige Aussagen? Da überschätzen sie sich. Im Bereich der Metaphysik kann es und soll es keine festen Überzeugungen geben. Das Wort ‚Festigkeit‘ verliert hier jeglichen Sinn. Angemessenen wäre es, von einem ewigen Schwanken und Wanken des Denkens zu sprechen.

Ein möglichst widerspruchsfreies philosophisches Gedankengebäude zu errichten, erschien Schestow wie eine hybride Anmaßung. Gerade angesichts alltäglicher Erscheinungen wie Alter, Armut, Hässlichkeit, Krankheit und Tod bedürfe es einer ganz anderen Art des Nachdenkens. Die Gewinnung von Erkenntnissen läuft dann Gefahr, wenn sie zur Apologetik der Wissenschaften verkommen. Die unendliche Vielschichtigkeit der Wirklichkeit bedarf, um sich ihr auch nur ansatzweise nähern zu können, der gesamten Bandbreite menschlicher Ausdrucksstärke und Regungen. „Zu welchem Zweck? Ich meine, daß man diese Frage unbeantwortet lassen kann: Wer sie stellt, zeigt damit, daß er weder eine Antwort noch eine solche Philosophie braucht. Wer sie aber braucht, wird nicht fragen und wird geduldig die Ereignisse abwarten – eine Fieberkurve von 40 Grad, einen epileptischen Anfall oder irgendetwas Derartiges, was ihm die schwere Aufgabe des Suchens erleichtern wird …“.

Titelbild

Leo Schestow: Apotheose der Grundlosigkeit und andere Texte.
Ausgewählt, herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Felix Philipp Ingold.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
359 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783882213911

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