Versuch, den Vater zu verstehen

Rothmanns Roman „Im Frühling sterben“ erzählt die Genese einer posttraumatischen Belastung

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ralf Rothmanns neuer Roman verspricht ein Erfolg zu werden, obwohl sich der durch Preise hinlänglich verwöhnte Autor trotz nachdrücklicher Aufforderung geweigert hat, mit ihm am Rennen um den Deutschen Buchpreis teilzunehmen. Wahrscheinlich will er sich vom Long- und Shortlist-Unfug distanzieren, denn dass er Im Frühling sterben für kein preiswürdiges Werk hält, darf man wohl ausschließen. Der Roman behandelt mit dem Kampf der Waffen-SS in Ungarn am Ende des Zweiten Weltkriegs einen Stoff, der ausreichend Interesse weckt; und er ist komplex genug konzipiert und so anspruchsvoll geschrieben, dass er auch ästhetische Beachtung verlangt. Besonders die Rahmenerzählung ist kein simples Anknüpfen an herkömmliche Erzähltraditionen, sondern dient vielmehr dazu, eine naive Lektüre zu verhindern.

Sie bietet ein Kurzporträt von Walter Urban, dem Vater des Ich-Erzählers, einem schwermütigen und wortkargen Mann, der auf Bitte des Sohnes, Genaueres von seiner Teilnahme am Krieg zu berichten, die ausweichende Antwort gibt: „Wozu denn noch? Hab ich’s dir nicht erzählt? Du bist der Schriftsteller.“ Es ist davon auszugehen, dass er wenig erzählt hat und der Hinweis auf den Beruf des Sohnes als Aufforderung oder zumindest als Anregung verstanden werden soll, das Vakuum des Schweigens mit Hilfe von literarischer Imagination zu füllen. Demnach fungiert der Erzähler nicht als Gewährsmann für die Wahrheit des Erzählten, sondern ist wegen Mangel an Information auf Erfindung angewiesen. Natürlich kann ein Autor, der Geschichtliches zur Anschauung bringen will, auf sachdienliche Recherchen schwerlich verzichten, aber eine Frage nach der Authentizität des Geschehens ginge ins Leere, selbst Unwahrscheinlichkeiten sind entschuldigt. Hauptsächlich besteht der Roman aus dem Versuch eines Sohnes sich vorzustellen, was sein Vater in einem prägenden Lebensabschnitt gemacht hat.

Dieser Versuch zeitigt einen Text, der aus der Perspektive Walter Urbans von zwei knapp achtzehnjährigen Melkerlehrlingen aus Schleswig-Holstein erzählt, Walter selbst und seinem Freund Fiete, die noch 1945 zur Waffen-SS zwangsrekrutiert werden. Einer kurzen Ausbildung folgt der Einsatz in Westungarn, wo sie Zeugen mörderischer Kämpfe und sadistischer Gräuel werden, beschrieben mit einem Detailrealismus, der keine Empfindsamkeit schont. Damit verwoben ist die vergebliche Suche Walters nach dem Grab seines Vaters, eines SS-Mannes, der zur Bewachungsmannschaft des KZ Dachau gehört hatte, aber, an die Front strafversetzt, bei Stuhlweißenburg gefallen ist. Zu seiner Einheit zurückgekehrt, erfährt Walter, dass Fiete wegen Fahnenflucht fusiliert werden soll und er selbst zu dem mit der Erschießung beauftragten Kommando gehört. Umsonst verwendet er sich für den Freund bei einem Vorgesetzten, auch ist der auf ihn ausgeübte Zwang so ausgeklügelt, dass ein Vorbeischießen die eigene Hinrichtung zur Folge hätte. Unmittelbar nach der Exekution, auch sie mit schonungsloser Ausführlichkeit beschrieben, erleidet er einen Nervenzusammenbruch.

Dann macht die Handlung einen Sprung und führt zu Walters Kriegsgefangenschaft bei den Amerikanern, zur Rückkehr ins Zivilleben in einem zerstörten Deutschland, zu einem flüchtigen Wiedersehen von Mutter und Schwester und zu der ausführlicher geschilderten Heimkehr nach Schleswig-Holstein, wo er ein schon vorher bestehendes Verhältnis mit einem Mädchen fortsetzt, seiner späteren Frau. Angedeutet wird der Plan, später einmal mit ihr ins Ruhrgebiet zu ziehen und dort Bergmann zu werden.

Der Rahmen wird geschlossen mit dem Versuch des Ich-Erzählers, der eine unübersehbare Ähnlichkeit mit dem Autor hat, fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod des Vaters Blumen auf dem Grab der Eltern niederzulegen. Doch weil er sich auf dem Oberhausener Friedhof nicht mehr zurechtfindet und weil Schneefall die Orientierung erschwert, scheitert der Versuch.

Zweiter Weltkrieg und unmittelbare Nachkriegszeit liegen weit genug zurück, um Im Frühling sterben als historischen Roman einzustufen. Zur Poetik eines solchen gehört die Regel, keine historischen Hauptpersonen zu Trägern des Geschehens zu machen, sondern historisch nicht verbürgte Gestalten. Das beachtet Rothmann ganz selbstverständlich. Er praktiziert auch eine andere Regel: Konkrete Details werden eingesetzt, um die Atmosphäre einer vergangenen Zeit zu beschwören und gleichzeitig die Distanz zum Heute erfahrbar zu machen. Zu ihnen gehören z.B. die auffällig oft erwähnten alten Automarken, wobei es meist um von der Wehrmacht genutzte Spezialanfertigungen geht, wie der Opel Blitz. Eine ähnliche Funktion haben alte Schlager, die, manchmal zu anspielungsreich, ‚eingespielt‘ werden: „Davon geht die Welt nicht unter“, „Ein Freund, ein guter Freund“, „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern!“, „Kauf dir einen bunten Luftballon“, „Für eine Nacht voller Seligkeit“, „Heimat, deine Sterne“, „Lili Marleen“.

Diese und vergleichbare Textelemente legen nahe, das Hauptaugenmerk auf die Vergangenheit zu richten. Doch anders als beim klassischen historischen Roman geht es nicht allein um sie, vielmehr darum, wie sie fortwirkt, und zwar nicht politisch, sondern psychisch. Es gibt im Roman so etwas wie ein Räsonnement, das die zentrale Aussage auf den Punkt bringt, angestellt von Fiete am Vorabend seiner Exekution. Er erzählt, dass er schon oft geträumt habe, erschossen zu werden, und dass sein Vater im Ersten Weltkrieg von den Franzosen scheinexekutiert worden sei und daran glaubte, „dass es ein Gedächtnis der Zellen in unserem Körper gibt, auch der Samen und Eizellen also, und das wird vererbt. Seelisch oder körperlich verwundet zu werden macht was mit den Nachkommen. Die Kränkungen, die Schläge oder die Kugeln, die dich treffen, verletzen auch deine ungeborenen Kinder, sozusagen. Und später, wie liebevoll behütet sie auch aufwachsen mögen, haben sie panische Angst davor, gekränkt, geschlagen oder erschossen zu werden. Jedenfalls im Unterbewusstsein, in den Träumen.“ Darauf Walters Frage: „Was ist mit dem, der schießen muss? Was vererbt der?“

Rothmann macht Gebrauch von der von einigen Vertretern der psychologischen Trauma-Forschung erwogenen These, der zufolge posttraumatische Belastungen durch Codierung im Erbgut an Kinder und sogar Enkel weitergegeben werden. Die Bedeutung dieser These für das Verständnis des Romans geht bereits aus dessen biblischem Motto hervor: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ (Ezechiel 18, 2) Individualpsychologische Grenzen werden aufgehoben, was erklärt, dass der Roman nicht nur das Schicksal einer Person berücksichtigt, sondern auch die Familie einbezieht. Den Ich-Erzähler inbegriffen, handelt er von drei Generationen, wobei Parallelen auffällig herausgestellt werden, z.B. die SS-Zugehörigkeit von Großvater und Vater, die vergebliche Suche nach den Gräbern der beiden oder, obwohl stofflich ganz andersartig, der lieblose Empfang, den sowohl die Mutter als auch die spätere Frau dem Kriegsheimkehrer bereiten. Das Ewig-Weibliche zieht nicht hinan.

Die emotionale Kälte beider Frauengestalten lässt auf unterschwellige Misogynie schließen, was durch die homoerotische Nuance in der Freundschaft zwischen Walter und Fiete bekräftigt wird. Fietes äußere Erscheinung wird als weiblich beschrieben: Mit „umschatteten Augen, sah er wie ein Mädchen aus; schmal das Gesicht, haarlos der Teint und die Wimpern waren lang und geschwungen“. Beim Abschied vor der Hinrichtung wird der Hinweis auf sein mädchenhaftes Aussehen noch einmal wiederholt, und es kommt zu zärtlichen Berührungen: Walter fühlt plötzlich die Hand des Freundes, „ihr selbstverständliches, um keinen Widerspruch besorgtes Tasten über Wange, Hals und Brust“. Er umarmt ihn seinerseits und küsst ihn auf die Schläfe. Gewiss, die beiden sind nicht schwul im landläufigen Sinn; aber das, was sie verbindet, ist weit mehr als eine übliche Männerfreundschaft, so dass man sagen darf: Walter, der als Angehöriger einer Transporteinheit nicht zu schießen braucht und im ganzen Krieg nur den Schuss abgibt, der auf Fiete zielt, tötet den Menschen, den er am meisten liebt. Der realistische Erzählgestus kann das Balladeske einer solchen Tragik nicht völlig kaschieren.

Dazu, dass der Roman nicht durchweg als realistisch begriffen werden kann, trägt das ihn durchziehende Geflecht von Querverweisen bei, die gleichermaßen versteckt wie unübersehbar sind und deren Bedeutsamkeit zuweilen aufdringlich wirkt. Schon der Titel ist doppeldeutig: Im März 1945 scheiterte in Ungarn die vorwiegend von Verbänden der Waffen-SS vorgetragene Offensive „Frühlingserwachen“, und vielleicht hat diese grotesk unpassende Bezeichnung Rothmann zum Titel Im Frühling sterben inspiriert. Doch selbstverständlich ist Frühling in erster Linie eine Metapher für Jugend; und der Kontrast zwischen „Frühling in der Natur“ und „Sterben der Menschen“ wird überdeutlich akzentuiert. Noch beim Tod des Vaters blüht vor dem Fenster der Klinikpark.

Der Versuch, den Text symbolisch zu überhöhen, ist vielfach zu beobachten. So können Birken bis hin zum Birkensaft zum Leitmotiv werden, ausgehend von den Birkenholzkreuzen auf den Kriegsgräbern. Sinnbildlichkeit suggerieren die Tiere, die am Rande des Geschehens auftreten, besonders auffällig der seine Hauer an einer Eiche schärfende Keiler am Morgen des Hinrichtungstages. Dass im Radio des Taxis, mit dem der Ich-Erzähler zum Friedhof fährt, Schuberts Winterreise erklingt und Verse zitiert werden, die für die Situation geeignet scheinen, wie „Will dich im Traum nicht stören, / Wär schad um deine Ruh“, ist von einer fast verstimmenden Scheinbedeutsamkeit.

Der symbolischen Überhöhung dienen auch Bibel-Reminiszenzen. Ihr Bezugspunkt ist Gottes Frage an Kain „Wo ist dein Bruder Abel?“ und Kains Entgegnung „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Zu Anfang des Romans wird Walter zweimal gebeten, auf Fiete aufzupassen, und der Doppelsinn dieser Bitte und die Tragik, hilflos gewesen zu sein, als es darum ging, ihr nachzugekommen, erschließen sich spätestens, wenn der Ich-Erzähler in der Familienbibel auf die von Walter markierte Stelle mit der Verfluchung Kains stößt: „Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“ Walters Schwermut und sein missglücktes Leben sind die Folgen seines „Brudermords“.

Die biblischen Anklänge erinnern an den Titel von Heinrich Bölls gleichfalls auf dem Balkan spielenden Kriegsroman Wo warst du, Adam? (1951). Das ist ziemlich genau die Frage, die der Ich-Erzähler in Im Frühling sterben in Bezug auf seinen Vater zu beantworten sucht, und Bölls Antwort „Ich war im Weltkrieg.“ hat auch Gültigkeit für Walter Urban. Manche Parallelen zwischen den beiden Romanen ließen sich auflisten, doch sie ändern nichts daran, dass sie bei der Lektüre einen verschiedenen Eindruck machen. Auch Böll erzählt von Tod und Verbrechen, aber er macht es vergleichsweise kurz, und nicht die Gräuel des Kriegs stehen im Mittelpunkt, sondern seine Sinnlosigkeit. Dass er aber die Sinnfrage überhaupt stellt, wenn auch ex negativo, impliziert, dass er so etwas wie Sinn für möglich hält, zwar nicht im Krieg, aber im Leben. Während bei Rothmann die Menschen psychisch und physisch so erbarmungslos zerstört werden, dass schon die Sinnfrage sinnlos ist.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
234 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424759

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