Alles andere als „Nicht-Orte“
Lars Wilhelmer legt eine Studie zu modernen Transit-Orten vor
Von Caroline Mannweiler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWem immer die seltsame Faszination nachvollziehbar ist, die von Bahnhöfen und Flughäfen ausgehen kann, wird einem Buch mit dem Titel „Transit-Orte“ nur schwer widerstehen. Dass auch der Autor besagter Studie dieser Faszination erlegen ist, darf angenommen werden, wiewohl er gänzlich darauf verzichtet, die „Stimmung“ von Transit-Orten einfangen zu wollen (Raumtheorien, die mit der „Kategorie“ der Stimmung arbeiten, erwähnt Wilhelmer zwar, präferiert aber soziologisch orientierte Modelle). Vielmehr äußert sich die Begeisterung des Autors in zahlreichen Details, die er zu den von ihm untersuchten Transit-Orten zusammenträgt: So geht er etwa den Veränderungen der Flughafenarchitektur nach, die zunächst u.a. Le Corbusier zu visionären Entwürfen inspirierte, in letzter Zeit allerdings Fachleuten für Gefängnisbau anvertraut wurde, aber auch neuen Raumordnungen in Hotels, die sich durch die Verbreitung des Treppenlifts ergaben, gehört die Aufmerksamkeit des Autors.
Jedem in der Studie behandelten Transit-Ort, d.h. der Eisenbahn, dem Hotel, dem Hafen und dem Flughafen, sind Kapitel gewidmet, die das Aufkommen dieser „Orte“ skizzieren, wobei stets auch mit den neuen Orten einhergehende Wahrnehmungsveränderungen in den Blick genommen werden, angefangen bei neuen Landschaftseindrücken, die durch den Eisenbahnverkehr möglich werden, bis hin zu den vom Flugzeug aus aufgenommenen Plansichten. Ebenfalls Erwähnung finden in diesen Kapiteln soziologische und politische Kontexte der neuen Transit-Orte, so bezüglich des Hotels als „Palast“ des Bürgertums oder des Hafens, der im Nationalsozialismus zum Fluchtort der Exilanten wird.
Diese facettenreichen Einordnungen sind interessant und mit Gewinn zu lesen, obgleich ihre Notwendigkeit für den Zusammenhang der Studie sich nicht immer unbedingt erschließt. Dieser geht es vornehmlich darum, Transit-Orte in der Literatur zu verhandeln, wobei pro Transit-Ort zwei literarische Texte ausgewählt wurden: Eine Winternacht auf der Lokomotive von Max Maria von Weber sowie Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel zum Transit-Ort Eisenbahn, Joseph Roths Hotel Savoy und Franz Werfels Die Hoteltreppe zum Hotel, Transit von Anna Seghers sowie Erich Maria Remarques Die Nacht von Lissabon zum Hafen und schließlich die zeitgenössischen Romane Flughafenfische von Angelika Overath sowie Xaver Bayers Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen zum Flughafen.
Die Analysen dieser literarischen Texte erfolgen dabei nach einem ganz eigenen theoretischen Modell, das in einem die Studie einleitenden sehr ausführlichen und stellenweise sehr anregenden Theoriekapitel entwickelt wird. Dabei geht Wilhelmer vor allem auf die für die Thematik des Transit-Ortes einschlägigen „Klassiker“ der Raumtheorie de Certeau und Augé ein (ergänzt durch einige Bemerkungen zu Foucaults Heterotopien), stützt seine Überlegungen aber in erster Linie durch eine soziologische Raumtheorie von Martina Löw. Wichtig ist ihm die Betonung eines relationalen Raumbegriffs, der die Vorstellung des Raums als „Container“ ablöst und für die vielfältigen Möglichkeiten der Raumkonstruktion, ausgehend von ein und demselben Ort, sensibilisiert. Sinnfällig wird dies in der Vorstellung des Flughafens als eines Ortes, der nicht isoliert, sondern eingebettet in einen Flugstreckenraum zu denken ist, der den gesamten Globus umspannt.
Dass der relationale Raumbegriff gerade für die Transit-Orte besonders relevant ist, kann kaum überraschen. Überraschender ist allerdings die Verbindung dieses Raumbegriffs mit narratologischen Konzepten, wie sie Wilhelmer für sein Analysemodell vornimmt. Im Rückgriff auf Arbeiten Bronfens und Genettes (Lotman findet erstaunlicherweise nur in einer Einzelanalyse punktuell Erwähnung) entwirft er ein Modell, das raumtheoretische Überlegungen auch auf literarische Texte übertragbar machen soll. Wilhelmer teilt die „literarische Raumwirklichkeit“ dabei in vier Ebenen ein, den Trägerraum, den Textraum, den Raum der erzählten Welt und den metaphorischen Raum.
Die „Anwendung“ dieser Ebeneneinteilung auf literarische Texte führt dabei allerdings zu mitunter merkwürdigen Ergebnissen: So wird die Tatsache, dass Hotel Savoy als Feuilletonroman erschienen ist, zum Ausweis des transitorischen Charakters des Textes, mit der Folge, dass im Falle von Overaths Flughafenfische die konventionelle Erscheinungsweise in Buchform als zum Transitorischen nicht beitragend erfasst werden muss. Ebenfalls etwas befremdlich wirkt die Analyse des „Textraumes“ von Xaver Bayers „Ein-Satz-Roman“ Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen, den Wilhelmer mit „Stichproben“ von zwei weiteren „Ein-Satz-Erzählungen“ vergleicht (Delius‘ Die Birnen von Ribbeck und Mayröckers Mein Herz, mein Zimmer, mein Name), um zu dem Schluss zu kommen, dass das von Bayer genutzte, ein „Nebeneinander“ von Gedanken vermittelnde „Komma und“-Konstruktionsprinzip „weder das einzig mögliche noch willkürlich gewählt ist“, was gewiss nicht falsch ist, aber auch ohne Probe aufs Exempel hätte ausgesagt werden können.
„Ist dies überhaupt ein Transitroman oder schlicht ein ‚poetischer Roman‘, der zufällig am Flughafen spielt?“ In dieser Frage zu Angelika Overaths Flughafenfische kommt der hohe Anspruch der Studie zum Ausdruck, das Transitorische tatsächlich als zentrales Strukturprinzip der Texte auf allen Ebenen zu erfassen. Dieser Anspruch erklärt sicher auch die Ansiedlung der Studie im „Interimsbereich zwischen Kultur-, Sozial- und Literaturwissenschaft“. Genau in dieser Zwischenposition liegen jedoch vorerst wohl mindestens genauso viele Chancen wie Risiken.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz