Kulturen der Gewalt

Dierk Walter analysiert Wesen und Erscheinungsformen des „Imperialkrieges“

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Rede vom „asymmetrischen Krieg“ gehört bereits seit Jahren zum Repertoire politikwissenschaftlicher und militärhistorischer Studien. Genährt nicht zuletzt durch die im öffentlichen Bewusstsein immer noch verankerten Feldzüge in Afghanistan, im Irak oder in Mali, zielt sie auf Konflikte zwischen Gegnern unterschiedlicher Stärke, Bewaffnung und Kampfkraft, geprägt von jeweils anders gearteten taktischen Konzepten, Traditionen und verfügbaren Ressourcen an Menschen, Wissen und Material. Man mag geneigt sein, an den Kampf Davids gegen Goliath zu denken, darf dabei aber nicht vergessen, dass in aller Regel nicht ersterer, sondern letzterer die Oberhand behält. In den Handbüchern von Militäranalytikern ist das bereits am Ende des 19. Jahrhunderts unter „small wars“ rubriziert worden, eine keineswegs abschätzige oder verniedlichende Formulierung, denn „klein“ steht dafür nicht etwa für eine geringe Zahl von Opfern oder für niederschwellige Gewalt. Mit den „small wars“ sind gewöhnlich die Waffengänge an der Peripherie, an den Rändern der Imperien gemeint, die ihrerseits bestrebt sind, ihre Einflusssphäre zu sichern, ihren Radius auszudehnen und ihre Werte und Normen zu exportieren.

Dierk Walter lenkt in seinem Buch „Organisierte Gewalt in  der europäischen Expansion. Gestalt und Logik des Imperialkrieges“ das Augenmerk auf die dabei zutage tretenden Erscheinungsformen, Probleme und Strukturen. Für sich genommen sind die meisten davon nicht gänzlich unbekannt, aber in der vergleichenden Zusammenschau, die imponierend weite Bögen von der Frühen Neuzeit bis in unsere Tage spannt, gelingt Walter eine dichte, informative Studie, die sich nicht an den handelsüblichen Datierungen einer europazentrischen Geschichtsschreibung orientiert, sondern Konstellationen und Entwicklungen von langer Dauer in den Blick nimmt. Eine solche Perspektive ist nicht selbstverständlich. Denn, so heißt es einleitend: „Das Jahr 1945, das den Kalten Krieg und die Dekolonisation einläutete, ist eine derart konstitutive Zäsur für die Welt der Gegenwart, daß Kontinuitäten über diesen Zeitraum hinaus kaum wahrgenommen werden.“ Dies gilt es aufzubrechen, nicht mithilfe von Tiefenbohrung und intensiver Kontextualisierung, vielmehr mit flächiger Zusammenschau, mit der Rekonstruktion von Typologien und Konfliktmustern. Aktuelle Erfahrungen sind zwar präsent und sind in der Schlussbetrachtung von Bedeutung, aber sie präjudizieren das Urteil über die Vergangenheit nicht. So gesehen ist es konsequent, dass Walter den jüngsten Versuchen, den deutschen Vernichtungsfeldzug gegen die Herero und Nama in Südwestafrika am Beginn des 20. Jahrhunderts zur Präfiguration von Auschwitz zu stempeln, mit Skepsis begegnet.

Obwohl der Verfasser, darin den Trends einer mittlerweile auch an deutschen Universitäten heimisch werdenden ‚Globalgeschichte‘ folgend, eine Fülle von Details und illustrierenden Beispielen ausbreitet, verliert er darüber nie den roten Faden; allenthalben ist seine ordnende Hand erkennbar, die aus einer bisweilen disparat wirkenden Fülle verallgemeinerungsfähige Einsichten schöpft. Wer mehr über die jeweils nur angetippten ‚Fälle‘ wissen möchte, muss die einschlägige Spezialliteratur konsultieren. Der Leitbegriff, von dem der Versuch einer komparativen kolonialen Gewalthistorie lebt, lautet „Imperialkrieg“. Er steht für die Eroberungszüge und Militärinterventionen der westlichen Kolonialmächte seit dem 16. Jahrhundert und ist ein integraler Bestandteil okzidentaler Hegemoniebedürfnisse und Machtprojektionen. Ähnlich gelagerte Expansionsbewegungen Russlands in Richtung Kaukasus und Mittelasien werden dabei nicht völlig übersehen, haben für die Analyse jedoch nur einen relativ geringen Stellenwert.

Feldzüge an der Peripherie sind per definitionem asymmetrisch und Gesetzen unterworfen, die sie deutlich von den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen imperialen Mächten unterscheiden. „Der Krieg in Afrika“, heißt es schon am Ende des 19. Jahrhunderts über die Eroberung Algeriens durch die Franzosen, „hatte einen ganz anderen Charakter. Er war durchaus ein Krieg, ein echter Krieg, sehr hart, sehr mühsam, sehr schwierig, aber sui generis“. Mit diesem Zitat leitet Dierk Walter das erste Kapitel ein, das den Blick auf die spezifischen Bedingungen von Kolonialkriegen richtet. Die zu bewältigenden Räume und die streckenweise überaus widrige Beschaffenheit des Geländes stellten beträchtliche Anforderungen an Logistik und Mobilität. Rasche Entscheidungen in offener Feldschlacht, wie es dem „hochintensiven Kriegführungsstil der abendländischen Moderne“ entsprach, waren eher die Ausnahme als die Regel, da sich ihr die beweglicheren, aber technisch unterlegenen indigenen Kontrahenten bewusst entzogen, die stattdessen Hinterhalte, Scharmützel und Guerillataktiken wählten. Für die Beherrschung großer Territorien und die Neutralisierung einer widerständigen Bevölkerung benötigte man erhebliche Truppenkontingente. In Algerien zum Beispiel waren in den 1950er-Jahren über 400.000 Soldaten stationiert, ohne dass damit die Besatzungsmacht in der Lage gewesen wäre, das Land einer wirksamen, zumal dauerhaften Kontrolle zu unterwerfen.  Insofern war es kein Zufall, dass man nicht selten Bündnisse mit bestimmten Gruppen der indigenen Gesellschaften einzugehen versuchte: zum einen, um den eigenen Ambitionen einen gewissen Anstrich von Legitimität zu verleihen, zum andern, um die Front der Gegner auseinanderzudividieren und zu schwächen. Konflikte an der Peripherie bedurften daher, sollten sie erfolgreich beendet werden, „stets der Einbettung in nichtmilitärische Maßnahmen“.

Die von den westlichen Imperien verfolgten Ziele waren häufig begrenzt. Die von ihnen ausgehende Gewalt hatte gewöhnlich nicht völlige Unterwerfung der eingeborenen Völkerschaften, sondern deren „Kontrolle, Ausbeutung und Zwangsmodernisierung“ vor Augen. „Endlösungen und Vernichtungskriege waren“, wie Walter im zweiten Kapitel zeigt, „nur in Ausnahmefällen die ursprüngliche Intention“ der imperialen Akteure. „Grenzüberschreitungen“ – das Thema des dritten Abschnitts – waren allerdings an der Tagesordnung, freilich nicht in Gestalt des „totalen“ Kriegs, den der Verfasser zu Recht auf die Weltkriege des 20. Jahrhunderts eingeschränkt wissen will. Sie manifestierten sich in Plünderungen von Nahrungsvorräten, im Niederbrennen von Dörfern und Städten, in Folter, Versklavung, kollektiven Deportationen, in der Schändung von Kultstätten, überhaupt in einer Kriegführung jenseits völkerrechtlicher Regularien. „Härte und Entschlossenheit“ gehörten regelmäßig zum Habitus der Truppenführer an den Orten des Geschehens und schlugen sich in rücksichtslosen Strafexpeditionen nieder, in „präventiver Einschüchterung“ und „gezielten Terrorkampagnen“. Der indigene „Wilde“, so vielfach die Maxime, sei „charakterlich schwach“ und leicht zu beeindrucken. „Unzivilisierte Rassen“, glaubte 1896 der Autor eines Leitfadens für die „kleinen Kriege“ in Übersee zu wissen, „interpretieren Milde als Furchtsamkeit“.

Prägend für Imperialkriege waren Walter zufolge „Kulturdistanz“ und konträre „Gewalttraditionen“. Die Konfliktparteien kannten einander nicht oder nur oberflächlich. Daraus entwickelten sich Missverständnisse, Überreaktionen, Exzesse und wechselseitige Radikalisierung. Mindestens so prägend – und dies gehört zu den interessantesten Aspekten in Walters Studie – waren jedoch Prozesse der Anpassung und des Lernens, was auf der einen wie auf der anderen Seite zu beobachten war. Krieg war immer auch „kultureller Austausch“, war Technologie- und Wissenstransfer, wie der Autor abschließend betont. Das hebt die Asymmetrie nicht auf, mildert sie jedoch ab und bringt die vermeintlich unterlegenen Kolonialvölker nach 1945 in die Vorhand. Das gilt für die Dekolonisierungskriege in Indochina, Algerien und Indonesien ebenso wie für den Widerstand gegen die sowjetrussische Okkupation Afghanistans in den 1980er-Jahren. Nicht zuletzt hier erweist sich die Zielsetzung Walters – die „Interaktion von Gewaltkulturen“ zu analysieren – als außerordentlich fruchtbar und anregend.

Titelbild

Dierk Walter: Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion. Gestalt und Logik des Imperialkrieges.
Hamburger Edition, Hamburg 2014.
413 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783868542806

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