Statt Erinnerungs-Imperativ lieber demonstrativ

Philip Meinhold zeigt in „Erben der Erinnerung“ die vielfältigen Holocaust-Verarbeitungsweisen seiner Familienmitglieder auf und fördert hierdurch Toleranz statt Zwang

Von Selina MuirRSS-Newsfeed neuer Artikel von Selina Muir

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Philip Meinhold wurde 1971 in Westberlin geboren. 2015 veröffentlicht der Schriftsteller und Journalist mit „Erben der Erinnerung“ sein zweites Buch. In dieser autobiographischen Arbeit erkundet er die Vergangenheit seiner Familie, welche gleichzeitig seine eigene Lebensgeschichte ist. Durch Illustrationen und die Aufstellung der Verwandtschaftsverhältnisse der Familie Meinhold wirkt der Inhalt authentisch und persönlich. Man sollte allerdings nicht voreilig den Schluss ziehen, dass es sich hierbei um ein Buch unter vielen Büchern über den Holocaust handelt. Philip Meinholds Arbeit ist zwar einerseits eine Beschäftigung mit seinem familiären Holocaust-Hintergrund aber gleichzeitig vermittelt sie Allgemeingültigkeit. Es ist eine vielschichtige intellektuelle Erzählung mit den Zügen und der distanzierten, nüchternen Sprache eines Berichts über die Verarbeitung der Holocaust-Vergangenheit der Familie Meinhold.

Der Untertitel lässt vermuten, dass ein geplanter Ausflug nach Auschwitz den Mittelpunkt der Erzählung einnimmt. Außerdem wundert man sich schnell über die fast widersprüchlich klingende Konstellation von „Familienausflug“ und „Ausschwitz“. Auch der Erzähler bemerkt diese ungewöhnliche Vereinigung beider Begriffe, zumal meist positive Konnotationen mit dem Wort „Ausflug“ mitschwingen. Wenn man allerdings bedenkt, wie wichtig die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit ist, um sie zu verarbeiten, dann erkennt man, dass dieser Familienausflug nach Ausschwitz hierfür hilfreich ist und er die Familie Meinhold zusammenführt.

Philip Meinhold leitet uns mit den ersten Seiten in die Familienkonstellation und in die Thematik des Buches ein. Philip hat zwei Geschwister, Robert und Anne. Obwohl ihre siebzigjährige Mutter nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen als „Jüdischer Mischling zweiten Grades“ galt und ihre Verwandten deportiert wurden, gibt sie unerwartet ihren Wunsch preis, zu dem Ort des Geschehens zu fahren. Sie möchte gemeinsam mit ihren drei Kindern und den älteren Enkeln in die KZs in Auschwitz reisen und eine Führung mit einem „Guide“ statt mit einem „Führer“ buchen. Die bewusste Vermeidung des Worts „Führer“, die nicht immer eingehalten wird, zeigt die Schwierigkeit des Autors mit der Verwendung des negativ konnotierten Begriffs, zumal dieser sie auch noch durch KZs führen soll. In diesem Wunsch der Mutter zeigt sich das Bedürfnis die Holocaust-Vergangenheit zu verarbeiten. Sie möchte die Erlebnisse und Erfahrungen an ihre Kinder und Enkelkinder weitergeben. Philip Meinhold nimmt zu Beginn scheinbar diese Bitte nicht ernst oder möchte sie nicht ernst nehmen. Seitdem die Mutter ihren Wunsch mit ihren Kindern besprochen hat fängt Philip jedoch an, über seine Vergangenheit nachzudenken und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Er beginnt, seine eigene Familiengeschichte zu recherchieren und wundert sich, wie die Haltungen der einzelnen Familienmitglieder so variieren können. Es fällt ihm beispielsweise schwer, die Gefühlsbetontheit seiner Schwester nachzuvollziehen und er zweifelt ihre Echtheit an. Je mehr er erfährt, desto mehr entwickelt er sich, er wird toleranter und öffnet sich anderen Ansichten.

Trotzdem hält Philip Meinhold stets die Distanz zu seiner Geschichte, indem er seine Familienangehörigen zu Wort kommen lässt, statt aus seiner Perspektive zu berichten. Dieser Perspektivwechsel schafft einen Einblick in die Gedankenwelt seiner Mutter, seiner Geschwister und deren Kinder. Der Erzähler selbst scheint ein ambivalentes Verhältnis zu seiner Familienvergangenheit zu haben. Er fragt sich, ob Nicht-Juden immer als Täter anzusehen sind. Philip Meinhold zeigt auf, dass auch Farben existieren neben der schwarz-weißen Kategorisierung der Deutschen als Täter oder Juden. Dennoch hatte Philip Meinhold sich selbst bisher als Angehöriger des „Tätervolkes“ verstanden. In seinem Buch schildert er weiterhin die Schwierigkeit, die Holocaust-Thematik zu behandeln. Er vereint in seiner Arbeit auch Zitate von Zeitzeugen, wie von Primo Levi, Ruth Klüger oder Imre Kertész, die bereits den Versuch gewagt haben, über dieses Thema zu schreiben. Philip Meinholds Ziel war es offensichtlich ein angemessenes, aber gleichzeitig unvoreingenommenes Buch zu verfassen, sofern das überhaupt möglich ist. Zur selben Zeit möchte Meinhold dem sogenannten Erinnerungs- und Betroffenheitsimperativ entgegensteuern. Er möchte den Leser darauf sensibilisieren, dass jeder Mensch anders denkt und anders mit Situationen umgeht. Gleichzeitig lädt sein Buch den Leser dazu ein, sich mit seiner eigenen familiären NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Philip Meinhold: Erben der Erinnerung. Ein Familienausflug nach Auschwitz.
Verbrecher Verlag, Berlin 2015.
192 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320889

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