Literarische Einblicke in eine bewegte Epoche

Die Wiederentdeckung von Erich Kästners Erzählungen

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Mentalität der Weimarer Republik haben viele Schriftsteller in Geschichten und Gedichten hervorragend erfasst. Man kann dabei beispielsweise auf Kurt Tucholsky, Alfred Polgar, Walter Mehring, Arnold Zweig und viele andere Autoren verweisen. Zu Unrecht sind die Erzählungen von Wolfdietrich Schnurre (erschienen unter dem Titel „Als Vaters Bart noch rot war“), die einfühlend von dieser Zeit berichten, nach seinem Tod im Jahr 1989 in Vergessenheit geraten. Nicht anders erging es den etwa 140 Geschichten, die Erich Kästner verfasst hat. Sie wurden ursprünglich in Tageszeitungen veröffentlicht und sind bisher nicht in Buchform erschienen. Daher fanden sie später keine Beachtung mehr. Ein Fehler, wie sich nun herausstellt. Denn die 42 Geschichten, die der Germanist Sven Hanuschek ausgegraben und zu einem Buch zusammengestellt hat, sind beste Prosa. Gut, dass sie aus ihrem Schattendasein befreit wurden.

Die Erzählungen beweisen einmal mehr, dass Erich Kästner zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gezählt werden muss. Besonders zeigen sie die Vielseitigkeit des Autors auf. Fürs Feuilleton geschrieben, bekunden sie durch ihre literarische Qualität Haltbarkeit über den Tag hinaus. Längst ist bekannt, dass man Kästner nicht nur auf seine Lyrik reduzieren oder „lediglich“ als Kinderbuchautor abstempeln darf. Seine Romane und auch die Erzählungen, die Sven Hanuschek jetzt wieder zugänglich gemacht hat, sind Meisterwerke.

„Arbeiten, die als Vorstufen in größeren Werken wie in den Kinderbüchern oder dem Roman Der Gang vor die Hunde resp. Fabian (1931) aufgegangen sind, wurden nicht berücksichtigt, mit drei Ausnahmen, wo der ursprüngliche (…) Text mit den Büchern am Ende kaum noch etwas zu tun hat“. Zu diesen Ausnahmen zählt die traurige Geschichte „Inferno im Hotel“, die 1934 zum humoristischen Roman „Drei Herren im Schnee“ umgearbeitet wurde, der 1955 auch verfilmt worden ist. „Ebenso wurden keine Geschichten für Kinder aufgenommen, sehr wohl aber Erzählungen über Kinder“, schreibt Hanuschek in seiner editorischen Notiz. Er erläutert dort auch, dass es „keineswegs ein Qualitätsurteil Erich Kästners über seine frühen Arbeiten“ sein muss, wenn sich viele Erzählungen „nicht in den Werksausgaben zu Lebzeiten finden“. Denn in Berlin ist nach einem Bombardement 1944 seine Wohnung ausgebrannt und er musste „einen Teil seiner Texte und vor allem deren Zeitungs- und Zeitschriftenabdrucke in den fünfziger Jahren für die erste Sammelausgabe […] rekonstruieren“.

Die in dem Band „Der Herr aus Glas“ versammelten Erzählungen bieten einen intensiven literarischen Genuss und sind eine Fundgrube. Der Leser kann sich an geschliffenen Formulierungen und spannenden Wendungen erfreuen, dem Historiker liefern sie Einblicke, vor allem in die 20er-, aber auch in die 30er- und 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts, und dem Germanisten öffnen sie Kästners Schreibwerkstatt. Beispielsweise ist es besonders aufschlussreich, seine Geschichte vom „Hungerkünstler“ mit der Erzählung Franz Kafkas zum selben Thema zu vergleichen, die dieser 1924 verfasst hat. Hanuschek verweist darauf, dass man  „entlang der Erzählungen auch zeitgeschichtliche Verläufe rekonstruieren“ kann, denn Kästner hatte zu jeder Zeit „entschiedene politische Vorstellungen, ohne dass sie immer parteipolitisch festzulegen wären.“

Seine Erzählungen sind fesselnd und bilderreich, zumeist angefüllt mit Traurigkeit, mit Sentimentalitäten und bitterer Melancholie. Die handelnden Personen werden eindrucksvoll porträtiert, ihr soziales Umfeld wird anschaulich beschrieben. Zwänge und Erniedrigungen werden einsichtig gemacht, oft wird auch die Ausweglosigkeit und die Verzweiflung der Protagonisten vorgeführt. Bereits die erste Geschichte „Ein Menschenleben“ stellt dem Leser die triste soziale Lage der Arbeiter vor Augen:

„Solange es eben ging, hatte er arbeiten gemußt. Jeden Morgen … Noch lagen die Straßen leer und müd und übernächtigt. Die Schritte klapperten tönern auf dem Pflaster. Hinter grau verhängten, gähnenden Fenstern klirrten die Weckuhren. (Da standen sie jetzt auf. Mit eingekniffenen Augen. Und abwesenden Gesichtern.) … Die Bäume in den Anlagen froren. Ein Vogel plusterte sich. Und hatte noch keinen Mut zum Singen. Und der Mond schwamm fahl in einen unendlich trostlosen Himmel hinaus … Ein Lastwagen polterte in ein Brückenloch. Wie ein Sarg. Und auf dem Wagen stand ein kleiner Hund. Der kläffte wütend. Aber eigentlich nur aus Angst… Plötzlich stand die Fabrik da. Schluckte ihn ein. Mit tausend andern.“

Besonders eindrucksvoll ist auch die Geschichte „Verkehrt hier ein Herr Stobrawa“, in der eine „kleine, alte Frau“ sich nach ihrem Mann erkundigt, der sie mit einem jungen Mädchen betrügt. Oder die Erzählung „Spuk in Genf“, mit der Kästner die Angst der Bourgeoisie vor dem selbstbewussten Proletarier vor Augen führt. Ein Arbeiter zerbeißt am Quai du Mont krachend sein Bierglas und sammelt von den elegant gekleideten Gästen des Kaffeehauses „La Régence“ nach der Vorführung Geld in einer Zuckerdose ein: „Als er genug hatte, stellte er die Dose beiseite, warf den Boden des Bierglases achtlos weg, zog sich die Hosen hoch und ging. Die Zurückgebliebenen saßen müde wie Rekonvaleszenten. Was war eigentlich geschehen? Ein Mann ohne Schlips und Kragen hatte Glas gekaut. Aber es war ihnen, als wäre viel mehr und viel Drohenderes passiert.“

In den „Kindergeschichten für Erwachsene, die in diesem Band vertreten sind“, schreibt der Herausgeber in seinem Nachwort, werden „Kindheitshöllen geschildert, Kindheiten, die nicht stattfinden konnten, weil die Kinder durch ihre Eltern oder die Umstände krassen, manchmal zerstörerischen Überforderungen ausgesetzt wurden“. In der Geschichte von der „Kinderkaserne“ werden die bösartigen Schikanen, die in den Lehranstalten der Weimarer Republik auf der Tagesordnung standen, mit den daraus folgenden Konsequenzen drastisch beschrieben. In der kleinen Geschichte „Ein Musterknabe“ schildert Kästner „das Schicksal des verachteten Musterknaben, der kein Mann wurde, da er kein Kind war.“

In der Erzählung „Inferno im Hotel“ zeigt Kästner, wie der arme Metallarbeiter Peter Sturz, der durch ein Preisausschreiben einen Aufenthalt in einem Tiroler Luxushotel gewonnen hat, verspottet, diffamiert und gequält wird:

„Die Angestellten waren grausamer als die Gäste. Es schien, sie hätten sich auch an ihm zu rächen, da sie gezwungen waren, einen Kerl zu bedienen, den sie verachteten. Sie quälten ihn voll böser Lust; sie ertrugen es nicht, sein Herz auch nur eine Stunde unverletzt zu lassen; sie verbreiteten alle seine Irrtümer, damit man ihn verlache. Vom Zimmermädchen erfuhren alle, die es wissen wollten (und andere auch), Sturz halte die Tür zu seinem Badezimmer für eine nachbarlich verschlossene Tür und habe noch nicht gebadet.“

Bitterböse wird Erich Kästner immer dann, wenn er auf den militärischen Drill zu sprechen kommt. In der Erzählung „Duell bei Dresden“ fasst er die Ausbildung der Rekruten auf dem Kasernenhof so zusammen: „Sie lernten grüßen, stillstehen, Parademarsch, Kniebeugen, und was sonst zum Sterben nötig war.“ Die Ausbilder quälen ihre Soldaten, sie  überbieten „sich im Erfinden von Gemeinheiten und Strafen“ und richten die jungen Menschen „wissentlich und mit Vergnügen zugrunde“. So bleibt diesen am Ende nur noch der Mut zu einer Leidenschaft: zum Hass.

Andere Geschichten wiederum bieten amüsante komische Unterhaltung, zumal sich Kästner auch darauf versteht, humorvoll, witzig und pointenreich zu erzählen. In der Geschichte des Sebastian Stock führt er zum Beispiel vor, wie dieser „mit einem Fräulein verheiratet“ wurde, „mit dem er nur hatte tanzen wollen“. Er erzählt ironisch die Liebesabenteuer eines Don Juan, dem die Frauen „die Bude einrennen“. Der Erzähler habe das „während eines Winteraufenthaltes in einem großen Gebirgshotel“ selbst erlebt, wie er beteuert. Aber: „Seitdem ist viel Neuschnee über die Sache gewachsen.“ Witzig sind die drei „gelungenen Gaunereien“: Hochstaplertricks, die „selbst hohe Polizeifunktionäre“ beeindrucken. Eine Eulenspiegel-Geschichte und ein Schildbürgerstreich tragen ebenfalls zur Unterhaltung bei. Auch die Fantasie kommt nicht zu kurz, etwa in den „Reisen des Amfortas Kluge“. Und alle Geschichten offenbaren Kästners leidenschaftliches Plädoyer für Humanität.

Der Herausgeber von Kästners Erzählungen stellt treffend fest: „Immer wieder zeigt sich in der vorliegenden Auswahl neben dem bekannten noch ein anderer Autor, der experimentiert, ausprobiert, an Tonfällen feilt, dem Sozialrealismus ebenso zugetan ist wie der Groteske, der satirisch-politischen Kritik und dem Nonsense.“ Kästners „Briefe an mich selber“ aus dem Januar 1940 gewähren Einblicke in die Persönlichkeit eines Schriftstellers, dessen Bücher die Nationalsozialisten 1933 öffentlich verbrannt hatten. Bitteren Humor enthält auch Kästners Geschichte „aus Berliner Tagebuchblättern“ mit dem Titel „Mama bringt die Wäsche“. Als die Mutter ihren Sohn in Berlin besucht, ist dessen Wohnung durch einen englischen Bombenangriff zerstört worden. Er drückt das so aus: Sie kommt „ausgerechnet in dem Augenblick, in dem mir die Engländer die Wohnung gekündigt hatten“. Und er fügt hinzu: „Den Schlüssel hab ich noch. Wohnung ohne Schlüssel ist ärgerlich. Schlüssel ohne Wohnung ist geradezu albern.“

Als Fazit der Lektüre ergibt sich die Aufforderung, Kästner (wieder) mehr zu lesen. Die neu edierten Erzählungen sind in jeder Hinsicht ein Gewinn!

Titelbild

Erich Kästner: Der Herr aus Glas. Erzählungen.
Herausgegeben von Sven Hanuschek.
Atrium Verlag, Zürich 2015.
299 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783855354115

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch