Ein Spiel mit Identitäten

Sie war Salonnière, Briefschreiberin und Freundin. Der Essayband „Begegnungen mit Rahel Levin Varnhagen“ zeigt, dass sie sich widerwillig damit begnügen musste, denn sie war auch Jüdin und Frau

Von Anett KollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anett Kollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kann ein Frauenzimmer dafür, wenn es auch ein Mensch ist?“, heißt es in einem Brief von 1793. Nein, aber da fangen die Probleme schon an, zum Beispiel beim Namen: Rahel, geborene Levin, spätere Robert, verheiratete Varnhagen, seit 1811 von Ense. Wie nennt man die Protagonistin, wenn man über sie schreibt? Es hat sich eingebürgert, historische Frauenzimmer mit ihrem Vornamen zu bezeichnen, eine Form, die Sympathie, geschwisterliche Vertrautheit und freundschaftliche Nähe suggeriert, oft auch distanzlos und despektierlich wirkt. Ginge es um männliche Größen, schriebe kein wissenschaftlich ambitionierter Mensch von Heinrich, Clemens oder Johann Wolfgang. Das mag Geschlechterpolemik sein, zielt aber auf mehr als eine Formalität und auf eine grundsätzliche Komplikation weiblicher Autorschaft (und ihrer Darstellung), die für Rahel Levin-Robert-Varnhagen-von-Ense auf der Suche nach ihrer Identität ein Lebensthema war und die Essenz ihres Schaffens modelliert.

Bekanntgeworden ist sie vor allem als Briefschreiberin und als Verfasserin eines Konvoluts von Aufzeichnungen, die auch Tagebücher und Notizen umfassen. Auszüge ihrer Korrespondenz mit Zeitgenossen erschienen bereits zu Lebzeiten, teils unter anderem Namen, vieles erst danach, so auch „Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“ in ihrem Todesjahr 1833. Ihr Ehemann Karl August Varnhagen von Ense hatte noch mit ihrer Hilfe versucht, das Lebenswerk zu einem Ganzen zu fügen: „Diese Schriften sind die Schriften Rahels, durchaus Rahels“. 2011 erfolgte eine kritische Edition der Textsammlung in sechs Bänden, nach dem Manuskript der Sammlung Varnhagen herausgegeben von Barbara Hahn. Die Germanistin zeichnet auch für den vorliegenden Essayband verantwortlich, der die Vorträge einer Veranstaltung im Berliner Brecht-Haus von 2013 zusammenfasst. Drei Jahre zuvor hatte Barbara Hahn für ihr Engagement zur Erforschung weiblicher Intellektualität den Margherita-von-Brentano-Preis der Freien Universität Berlin erhalten und von dem Preisgeld dieses „Fest für Rahel Levin“ gegeben.

Wie die verschiedenen Essays zeigen, ist die Frage nach der eigenen Identität als Frau, Jüdin und Intellektuelle in der Gesellschaft für die Literatin gleichzeitig Schreibhindernis und Schreibimpuls. Aber ist Briefeschreiben überhaupt literarisch, hat ihre Korrespondenz den Rang eines „Werkes“, eines „Buches“? Das „Buch des Andenkens“ trägt den Anspruch bereits im Titel, auch wenn es ein „anderes Werk-Denken“ ist, eine „Poetik des ‚Kollektiven‘“ (Andrea Krauss). Die Briefe sind nicht nur eine Sammlung von Augenblicksäußerungen mit vorwiegend biografischer Relevanz, sondern sie breiten in ihrem dezidierten Anspruch politische, soziale und ästhetische Überlegungen aus, „tieffste Meinungen des Geistes und Herzens“ und „gar nichts anderes“, wie die Verfasserin 1811 resümiert. „Diese aber sind meist kritisch, oder lyrisch; und beides schickt sich, fühl’ ich wohl, nicht für mich; die ich Weib, alt, und Mädchen bin, und sein soll“.

Kritisch oder lyrisch in ihren eigenen Positionen, fordert die Briefschreiberin auch angemessenen Response von den Adressaten: „Sie müssen approbiren oder tadlen, oder Recht geben oder widerstreiten“, fordert sie beispielsweise von Friedrich de la Motte Fouqué, und: „ich liebe Antwort“. Kein sentimentales Geplänkel, keine Traktate in Briefform gegossen – die wissbegierige Frau fordert ihre Briefpartner zum wahrhaftigen Gespräch, zu einem anspruchsvollen Dialog, der andernorts von ihr als Frau und Jüdin nicht geführt werden kann. Dieses Postulat der Wahrhaftigkeit und des Dialogs fügt die Briefe zu einem Werk zusammen und verleiht der Briefschreiberin und -empfängerin den Status einer Autorin.

Im Einzelnen betrachtet, wie in einigen Essays der vorliegenden Sammlung, lassen sich unter bestimmten Blickwinkeln Besonderheiten in den Dialogen mit den verschiedenen Korrespondenzpartnern aufzeigen. Der Wahlspruch „Einer für beide, und beide für Einen“ und das gemeinsame Gefühl der Ausgegrenztheit verbindet sie mit ihrem langjährigen Brieffreund David Veit wie Gesa Frömming in ihrem Aufsatz zeigt. Einen „parrhesiastischen Pakt“ (Christian A. Wollin) schließt sie mit Karl Gustav von Brinckmann, im schriftlichen Austausch mit Alexander von der Marwitz sprächen beide vor allem von sich selbst und verstünden den andern dabei als Spiegel (Andree Michaelis). Die Briefe der Schauspielerin Auguste Brede dienten vor allem als Bühne der Selbstfindung (Laura Deiulio), waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt und entfalten den Charme eines Girltalks über die Schwierigkeiten des Frauseins, über Männer, Beruf und Mode. Um Farben geht es im Aufsatz von Heide Volkening, wo der zeitgenössisch etablierte Farbkonstrast Grau-Grün in einer Semiotik der Stimmungen sein individuelles Echo im Austausch mit Pauline Wiesel findet. Mit allen Adressaten verbindet die Briefschreiberin eine Freundschaft, manchmal nur kurz, manchmal über Jahrzehnte, unterbrochen von Zeiten des Schweigens. In diesen Freundschaften und im kommunikativen Akt des Korrespondierens entsteht ein „utopischer Ort der Seelengemeinschaft“ (Nicola Behrmann), in dem die Briefschreiberin ihren persönlichen Neigungen den Raum geben kann, der ihr von der Gesellschaft verweigert wird. Dass dieser utopische Ort der Begegnung nicht nur von Zeitgenossen aufgesucht wird, belegen die Ausführungen von Kathryn McEwen und Erdmut Wizisla, in denen sie Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin mit der Autorin in Korrespondenz treten lassen.

Gleichzeitig entsteht an diesem Unort eine Kunstfigur der Briefschreiberin, ein virtuelles Selbst, das sie im Abgleich mit literarischen Figuren profiliert. Sie beschreibt sich als „eine Art gesünderer, brünetter, verjüngterer Hamlet“ und als „Gegenfüßlerin von Jeanne d’ Arc“. Es ist ein Spiel mit Identitäten, das aber keine Identifizierung mit den literarischen Figuren vollzieht. Shakespeares Hamlet sowie Schillers Jungfrau von Orleans und Goethes Tasso dienten der Selbstkonstruktion aus mehreren großen Außenseitern der Weltliteratur, so Anna Dannenberg in ihrem Aufsatz. In ihren Briefen wird die Verfasserin so selbst zur Kunstfigur, besonders deutlich im „Buch des Andenkens für ihre Freunde“ – „nicht das, was sie geschrieben hat, sondern sie selbst wird poetisch“, konstatiert Nicola Behrmann. Im Titel dieses Buches ist sie nur „Rahel“, die Essenz einer Figur, frei von dem, was ihr durch Geburt, Gesellschaft und Heirat aufgetragen wurde. Im vorliegenden Aufsatzband und auch in den kritischen Briefeditionen heißt sie Rahel Levin Varnhagen, ein „Kunstname“, wie die Herausgeberin zugibt, „ein ‚falscher‘ Name, den die so Bezeichnete selbst nie benutzte, aber er ist so falsch, daß er zum Nachdenken zwingt“, wie sie an anderer Stelle schreibt.

Ein Kunstname für eine Kunstfigur – darin liegen auch Gefahren, die Gefahr der Kanonisierung und die Gefahr, aus der historischen Persönlichkeit einen „Charakter“ (Gesa Frömming) zu machen, eine literarische oder akademische Figur. Der Aufsatzband versammelt Kenner der Materie, alte und neu hinzugekommene. Diese frischen Lektüren sind wichtig, um auch in Zukunft weitere Facetten bei der Frau mit den vielen Namen zu entdecken. Lohnenswert sind diese und zukünftige Lektüren in jedem Fall. 

Titelbild

Barbara Hahn (Hg.): Begegnungen mit Rahel Levin Varnhagen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
224 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835316614

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