Lesefieber

Vom Lesen und Schreiben (1)

Von Klaus ModickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Modick

Unter der holzgetäfelten Dachschräge wirkte das Kinderzimmer wie ein Beduinenzelt, in dem jeder Tag mit einer Geschichte endete. Lagen die Mädchen im Bett, wurde vorgelesen. Meine amerikanische Frau und ich wechselten uns dabei ab – heute Englisch, morgen Deutsch. Es gab lustige und traurige Geschichten, kurze und lange, ganze Romane gar, die sich über Wochen hinzogen. In diesen Stunden herrschte ein heller Zauber, mit dem die abstrakten Schriftzeichen zu gesprochenen Worten wurden und sich zwischen erzählendem Mund und lauschenden Ohren eine unsichtbare Brücke bildete, während das Schnurren des Katers, der eingerollt einem der Mädchen zu Füßen lag, wie ein einverständiger Kommentar klang. Manchmal, wenn die Mädchen schon eingeschlafen waren, las ich noch ein wenig weiter – vielleicht, um ihren Träumen noch ein paar Worte einzugeben, vielleicht aber auch, weil ich vom Vorlesen nicht lassen wollte, wenn daraus etwas aufstieg, was stummer, erwachsener Leseroutine abgeht: Klang.

Als sie dann selber lesen konnten, lasen meine Töchter manisch bis zügellos – von den Büchern zu Fern­sehserien wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten und Wendy-Heften über Gone With The Wind bis zu den Buddenbrooks, gelegentlich sogar, wenn auch stirnrunzelnd und kopfschüttelnd, Bücher, die ihr Vater geschrieben hat. Aber die Bücher, die in meiner Kindheit beliebt waren, ließen die Mädchen kalt. Vielleicht lag es auch daran, dass Karl-May-Lektüre eine Sache für Jungen war und nur die 60er-Jahre-Verfilmungen mit Pierre Brice den Hormonhaushalt weiblicher Teenager seinerzeit in Wallung versetzen konnte. Wäre zu Pubertätszeiten meiner Töchter Leonardo DiCaprio als Winnetou angetreten, hätten vermutlich auch sie sich mit solcher Inbrunst in die dunkelgrünen Schwarten versenkt wie der etwa zwölfjährige Junge, der in Hannover mit seiner Mutter zugestiegen war und mir nun im ICE-Abteil gegenüber saß. Er hatte sofort einen Harry-Potter-Band aus seinem schreiend roten Plastikrucksack gezogen, mit fieberhafter Unersätt­lichkeit zu lesen begonnen und sich von nichts und niemandem ablenken lassen – nicht von der draußen wintertrüb vorbeiziehenden Welt, nicht vom Angebot der durch die Zuggänge scheppernden Minibar, schon gar nicht vom Schaffner, der die Fahrkarten kon­trollierte, und selbst, als seine Mutter ihm einen Apfel hinhielt, blickte er kaum auf, sondern griff wie traumwandlerisch abwesend danach, biss hinein und verschlang, nun kauend, weiter sein Buch. Er fuhr nicht von Hannover nach Bremen oder Oldenburg oder Norddeich-Mole, sondern von einem Kapitel zum nächsten. Dazwischen lag der öde Gleichtakt der Schwellen und Schienen, den die Hochspannungsleitungen aufteilten, die Leere einer Welt, die ihn am Zielbahnhof wieder in Empfang neh­men würde. Inzwischen führte er ein Le­ben auf Fort­setzung, indem er den Abenteuern seiner Helden sein eigenes Dasein beimischte, ohne es zu bemerken.

Damals, in meiner Kindheit in den 50er-Jahren, die Stadtbibliothek in der Gartenstraße! Die Bücherei hieß schlicht und einfach Brücke. Ich nahm an, dass damit die brückenartige Treppe gemeint war, die zum Eingang hinaufführte, diese Brücke, auf der wir in langsam fallenden Däm­merun­gen, an Spätnachmittagen im Herbst oder Win­ter, fröstelnd im Nebelstaub warten mussten, bis ge­öffnet wurde. Und als ich später dahinter kam, dass Brücke nur ein Kürzel fürdas städtische Kulturzen­trum Brücke der Nationen war, blieb ich den­noch dabei: Die Brücke war diese Treppe zum Wunderreich der Bü­cher, die ich wie Pi­ratenschätze nach Haus trug, um sie dort, vom Lesefieber in bunte Phantasielandschaften ge­bannt, gie­rig und nim­mersatt weg­zu­schlürfen, wie einem wirklich Fiebern­den ja auch kein Getränk den unstillbaren Durst zu lö­schen ver­mag. Die Bücher frei­lich, die man am dringlichsten gebraucht hätte, um das Lesefieber zu stillen, waren fast immer ausgeliehen, besonders natürlich die Werke Karl Mays. Und das, was gewissermaßen auf dem Index stand, der so ge­nannte Schmutz und Schund, also Tarzan, Akim, Sigurd, und wie die Helden der schmalformatigen Comic-Serien alle heißen moch­ten, war selbstverständlich in der Brücke nicht zu haben.

Es gab jedoch einen Ort, an dem solche Schätze im Überfluss vorhanden wa­ren, und diese Lese­schatzinsel lag in einer Wohnung in der Wester­straße. Ein Schulkamerad hatte das sagen­hafte Glück eines Vaters, der Comic-Hefte sammelte und alle, aber auch wirk­lich alle Bände Karl Mays besaß. Die Bücher mit den bunten Um­schlagbildern und grün-schwarzen Jugendstil-Ornamenten auf den Rücken … Unsere Lektüre gab sich dort der grellen Kolportage so hemmungslos hin wie der Junge vor mir im Zug. Als ob man sich im Buch verbrannte. Die Seiten als Scheite, entflammt durch Lesende. Gibt es womög­lich einen Zusammenhang zwischen Schmökern und Schmöken, Rauchen also? Nun ja, das führt vermut­lich ins Nebelreich der Spekulation, die allerdings verdächtig der Erinnerung gleicht. Die Karl-May-Bände stan­den jedenfalls in einer Vitrine hinter Glasschiebetüren. Der stolze Besitzer war zu sehr Sammler, als dass er die Bücher aus dem Haus gegeben und uns ausgeliehen hätte; vielleicht fürchtete er, seine Kostbarkeiten könnten unter unseren entzündenden Blicken in Feuer und Rauch aufgehen. Und so saßen wir also zu viert und fünft und mehr sehr artig vor dieser Schleiflack-Vitrine auf dem Sofa oder auf dem Fuß­boden und schmökerten uns mit heißen Oh­ren Durchs wilde Kurdistan, durch Winnetou I bis III und durch Tarzans und Prinz Eisenherz’ Abenteuer.

Mein Vater rauchte – das heißt also: schmökte – zu dieser Zeit Senoussi-Z­igaretten, auf de­ren orange grundierten Packungen Araber in wildromantischen, buntgestreif­ten Burnussen abgebil­det waren, so dass ich ein kla­res Bild davon gewann, wie ich mir Hadschi Halef und die anderen Orientalen vorzustellen hatte. Und Illustra­tionen zu den Wild-West-Geschichten gab es als Sammelbil­der in den Wilken-Tee-Packungen, die meine Mutter kaufte. Unten, im Parterre des Schmö­ker­hauses in der Westerstraße, befand sich ein Wäscherei- und Heißman­gelbetrieb, aus dessen Räumen Dampfschwaden nach oben in unsere Leseräusche dran­gen, und deshalb bleiben die Aben­teuer Kara Ben Nemsis und Old Shatterhands in meiner Erinnerung stets von ei­nem Aroma durch­tränkt, das sich aus Waschlauge und Hoffmanns Uni­versal Stärke, Tee­blättern und dem scharfen Rauch von Senoussi-Zi­ga­retten zusammensetzt.

Und was meine Töchter betrifft: Die sind längst zu erwachsenen, passionierten Lesern geworden, doch zwischen den Zeilen mögen sie manchmal noch jene Stimmen hören, die ihnen vorgelesen haben. Heute Englisch. Morgen Deutsch.

Der Beitrag eröffnet eine „lose Folge von Reflexionen über das Lesen“, die von der Redaktion Gegenwartskulturen  hier angekündigt ist.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen