Weh dem, der (k)eine Heimat hat!
Über Gefühle, Räume und Szenarien in Friedrich Nietzsches freigeistigem Herbstgedicht „Vereinsamt“ und den Versuch des Autors, sich emotionalen Missverständnissen zu widersetzen
Von Thomas Anz
Was sind Heimatgefühle? Und wie werden sie von literarischen Texten ausgedrückt oder bei Leserinnen und Lesern hervorgerufen? Wie weit sind sie an bestimmte Orte gebunden oder zumindest mit räumlichen Vorstellungen verbunden?
An dem wohl bekanntesten Gedicht Friedrich Nietzsches, aus dem zwei Verse immer wieder zitiert werden, wenn von Heimatgefühlen die Rede ist, lässt sich exemplarisch einiges von dem zeigen, was zwei jüngere Forschungsrichtungen in der Literaturwissenschaft, die sich besonders für den literarischen Umgang zum einen mit Emotionen, zum anderen mit räumlichen Phänomenen interessieren, leisten, wenn sie Texte analysieren, und mit welchen Fragestellungen sie noch mehr leisten könnten als bisher. Das Gedicht sowie der Umgang des Autors und seiner Rezipienten damit sind darüber hinaus ein Beispiel dafür, wie missverständlich emotionale Kommunikation im Medium literarischer Texte sein kann.
„Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!“ So lautet der eine Vers am Ende der ersten Strophe. Der andere steht am Ende der letzten Strophe: „Weh dem, der keine Heimat hat!“ Entstanden ist das Gedicht im Herbst 1884, veröffentlicht wurde es erst zehn Jahre später, in einer (mit gut nachvollziehbaren Gründen) gekürzten Fassung unter dem Titel Vereinsamt in der Zeitschrift Das Magazin für Litteratur. In dieser Fassung wurde es berühmt. Und schon der Titel benennt ein in Zusammenhang mit „Heimat“, wenn sie fehlt, prototypisches Gefühl: die Einsamkeit. Die erste Strophe wiederum lokalisiert „Heimat“ sogleich in einem Raum: in der Stadt. Das ganze Gedicht lautet in dieser Fassung:
Vereinsamt
Die Krähen schrei‘n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei‘n –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du, Narr,
Vor Winters in die Welt – entflohn?
Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg‘, Vogel, schnarr‘
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck‘ du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei‘n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei‘n –
Weh dem, der keine Heimat hat!
Wie die Emotionspsychologie Gefühle zunächst grob nach positiven und negativen bzw. lust- und unlustvollen klassifiziert, so verfährt auch dieses Gedicht im Blick auf Heimatgefühle, indem es Wohl und Weh gegenüberstellt. Die positiven und negativen Gefühle sind damit aber noch nicht genauer gekennzeichnet. Das Gedicht konzentriert sich vor allem auf das Weh, auf den Schmerz, der mit Heimatverlust verbunden ist: „wer das verlor, / was du verlorst …“
Verlust ist zwar keine Emotion, sondern ein Szenario, aber dieses ist mit bestimmten Emotionen eng assoziiert: mit Trauer, mit Sehnsucht nach dem Verlorenen, mit Hoffnungen, das Verlorene wiederzufinden, mit Angst, dass dies nicht gelingt, und in diesem Gedicht dominant mit Einsamkeit. Das Schmerzhafte dieses Gefühls expliziert das Gedicht mit „blutend Herz“. Indirekt spricht es die Vereinsamung durch den Gegensatz zwischen Plural (die Krähen, die gemeinsam zur Stadt fliegen) und Singular (das „du“ und der „Vogel“ mit seinem Lied) an sowie mit „Wüste“. Heimat ist mit Gemeinschaftsgefühlen, Heimatlosigkeit mit Einsamkeitsgefühlen gekoppelt. Heimatlosigkeit in diesem Gedicht darüber hinaus mit Kälte gekennzeichnet, Heimat damit indirekt durch Wärme, Heimatlosigkeit wiederum mit Ziel- und Haltlosigkeit („macht nirgends Halt“), von der sich der zielgerichtete Flug der Krähen unterscheidet.
Zu spezifisch dichterischen Techniken der Evokation von Emotionen gehört in diesem Gedicht auch, dass es die semantischen Affinitäten von Wörtern mit negativem Gefühlsinhalt durch phonetische Affinitäten hervorhebt: „Winter“, „Wüste“, „Wanderschaft“, „Welt“. Darüber hinaus setzt das Herbstgedicht das Stimmungs- und Emotionalisierungspotential von Jahreszeiten und Temperaturen ein. Vor allem aber ordnet es die differierenden Emotionen, die es benennt und dem sich selbst mit Du anredenden lyrischen Ich zuschreibt, unterschiedlichen Räumen zu: dem Raum in der Stadt und dem außerhalb der Stadt. Die räumliche Modellierung setzt dabei ausdrücklich, wenn auch vage eine Grenze zwischen den beiden Räumen, auf der sich das Ich gerade befindet: „ein Tor / Zu tausend Wüsten stumm und kalt!“
Dass hier „Stadt“ semantisch mit „Heimat“ korreliert wird, ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Heimat als dem „Wunschort absoluter Geborgenheit“ (so eine Formulierung des Literaturwissenschaftlers Bernd Hüppauf in einem grundlegenden und erhellenden Beitrag von 2007) wird in der Regel mit Orten und Räumen einer Vergangenheit assoziiert, die vom Fortschritt der Moderne noch relativ unbeschädigt waren oder immer noch sind. „Heimat wurde im 19. und 20. Jahrhundert vorwiegend mit Räumen assoziiert, deren affektive Bedeutung und erotische Besetzung eine Spannung zur industriellen Modernisierung und kulturellen Rationalisierung herstellte. Dies nahe und doch verlorene Arkadien wurde in Land und Landschaft, Dorf und Kleinstadt vermutet. Die Kleinstadt bot einen idealen Raum für die Entwicklung von Heimatgefühlen an.“
In Nietzsches Gedicht ist allerdings mit „Stadt“ kein bestimmter Ort angesprochen. „Stadt“, „Welt“, „Tor“ und „Wüsten“, der Blick „rückwärts“ oder die „Wanderschaft“ sind keine oder nur ganz vage Bestandteile einer literarischen Topographie, die reale Orte beschreibt, sondern gehören zu einer topologischen Metaphorik, die semantische Relationen und mit ihnen verbunden auch emotionale Befindlichkeiten räumlich modelliert: die gemeinschaftliche Verbundenheit des einzelne mit anderen im Gegensatz zum Fehlen dieser Verbundenheit in der isolierten Position eines von dieser Gemeinschaft getrennten Außenseiters. Sowohl abstrakte topologische Relationen wie oben und unten, niedrig und hoch, drinnen und draußen, rechts und links, weit und eng, nah und fern als auch topographische Beschreibungen von Städten, Dörfern, Landschaften, Ländern oder Kontinenten können mit bestimmten Stimmungen und Emotionen korreliert sein, mit Sehnsucht, Angst, Trauer, Freude oder Geborgenheit.
In Goethes Faust etwa verbinden sich mit der topologischen Entgegensetzung von ‚eng’ und ‚weit’ oder ‚geschlossen’ und ‚offen’ diverse topographische und semantische Konkretisierungen zugleich. Die Eingangsszene „Nacht“ spielt, den Beschränktheitserfahrungen und Entgrenzungswünschen des Protagonisten entsprechend, in „einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer“, von dem Freigeist Faust selbst metaphorisch auch als „Kerker“ bezeichnet und mit Fluchtimpulsen bedacht: „Flieh! Auf! Hinaus in’s weite Land!“ Einen topographischen Kontrast zur Enge und Geschlossenheit des Raumes und zugleich einen semantischen Gegensatz zu dem eng mit ‚Tod’ assoziierten Bereich des hohen, engen Studierzimmers bildet der Schauplatz der zweiten Szene „Vor dem Tor“. Tore, Türen, Schwellen, Fenster oder Flüsse gehören in literarischen Texten zu vielfältig verwendeten topographischen Grenzmetaphern, mit denen Differenzen zwischen semantischen Sachverhalten markiert werden.
Noch bevor die jüngere Literatur- und Kulturwissenschaft, die sich einem „spatial“, „topological“ oder „topographical turn“ und zugleich einem „emotional turn“ verbunden sieht, Begriffe wie „Gefühlsräume“ oder „Raumgefühle“ (so unlängst auf einer Tagung zu dem Thema in Berlin) benutzte, wurde und wird in philosophischen Traditionen der Phänomenologie und des Existenzialismus über den „gestimmten“ oder „atmosphärischen Raum“ reflektiert. 2011 erschien der Sammelband Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, herausgegeben von der in Potsdam lehrenden Literaturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert. In ihrer Einleitung erklärt sie: „Raum und Gefühl – die Verbindung liegt auf der Hand. Wir schaffen uns Räume und bewegen uns in Räumen, in denen wir uns wohl fühlen, meiden solche, die uns unbehaglich sind. Das liegt nicht nur daran, dass wir möglicherweise unsere Stimmungen und Gefühle auf Dinge und Orte projizieren. Es liegt auch an den Räumen selbst, die ihre ganz eigene Aura besitzen können – sei es, weil sie sie im Laufe der Zeit erwerben, sei es, dass sie ihnen zugefügt wird.“ Der konstitutive Zusammenhang zwischen Raum und Gefühl sei bislang „weder im ‘spatial turn’ noch im ,emotional turn’ […] programmatisch in den Blick genommen worden.“
Im Blick auf Nietzsches räumliche Metaphern zur Beschreibung der Emotionen lässt sich allerdings gut zeigen, dass deren Analyse zu kurz greift, wenn man sich auf sie beschränkt. Mindestens ebenso wichtig ist die Analyse der Figuren, deren Emotionen gekennzeichnet werden, und der emotionsbehafteten Situationen, Szenarien oder Ereignisse, die im Zusammenhang mit der Raummetaphorik stehen.
Der russische Strukturalist Jurij M. Lotman, dem die Literaturwissenschaft maßgebliche Anregungen zur Analyse räumlicher Phänomene in literarischen Texten verdankt, hat vor gut vier Jahrzehnten ein literarisch dargestelltes „Ereignis“ raummetaphorisch als Überschreitung einer Grenze zwischen zwei unterschiedlichen semantischen Bereichen definiert, die eine Figur vornimmt. Nietzsches Gedicht hält eine Situation fest, in der das lyrische Ich reflektierend an einer Grenze, dem „Tor“, zwischen zwei Räumen innehält, rückwärts und vorwärts schaut, bevor es die Grenze überschreitet und sich auf Wüstenwanderschaft begibt.
Die Grenzüberschreitung wird als Ereignis beschrieben, das mit einem Verlust verbunden ist. Verlust ist wie gesagt keine Emotion, sondern ein Szenario. Im Blick auf typische Szenarien, deren Muster wir mental gespeichert haben, verwendet die Kognitionspsychologie bevorzugt den Begriff des „scripts“. Kognitionspsychologisch orientierte Ansätze literaturwissenschaftlicher Forschungen konzeptualisieren das Lesen literarischer Texte als Prozesse der Informationsverarbeitung und unterscheiden dabei bottom-up- und top-down-Prozesse, d.h. eine daten- und eine konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung. Die vom Text angebotenen Einzelinformationen (Daten) werden registriert und, abhängig auch von Kontextinformationen, mit geeigneten, im Gedächtnis des Lesenden vorher schon gespeicherten und rasch abrufbaren Mustern (die u.a. ,Konzepte’, ,Schemata’, frames oder scripts genannt werden) strukturiert und ergänzt bzw. ,inferiert’ (von lat. inferre, hinzufügen).
Wer Nietzsches Gedicht liest, kann ihm die Informationen entnehmen (bottom up), dass eine sich selbst mit „du“ anredende Person in einem Raum außerhalb oder am Rande der Stadt befindet und ohne festes Ziel eine lange Wanderschaft vor sich hat. Diese Information wird beim Lesen auf der Basis eines zum Wissensbestand der Adressaten gehörenden scripts ergänzt, mit dem die Informationen in ein Geschehensmuster folgender Art integriert werden: Jemand hat die Stadt bzw. Heimat verlassen und begibt sich auf Wanderschaft, hält inne, blickt reflektierend zurück und schließt trotz negativer Gefühle eine dem Flug der Krähen vergleichbare Rückkehr aus.
In der vollständigen Fassung, die einen zweiten Teil mit zwei zusätzlichen Strophen enthält, sind die bisher zitierten Strophen in Anführungszeichen gesetzt und mit „Abschied“ überschrieben. Abschiedsszenarien sind typische Teilszenarien eines umfassenderen Geschehensmusters bzw. scripts, das mit Heimatgeschichten ganz eng gekoppelt ist, in ihnen oft nur in einem Bestandteil ausgeführt wird und mit sehr unterschiedlichen Ausformungen, Akzentsetzungen und Emotionsbeschreibungen konkretisiert wird. Das Muster besteht im Wesentlichen aus drei Teilszenarien: Aufbruch aus der Heimat, Unterwegssein (oder Aufenthalt) in einem Raum fern der Heimat, Heimkehr.
Der Aufbruch aus der Heimat kann freiwillig oder erzwungen sein. Wenn in Nietzsches Gedicht steht „in die Welt entflohn“, klingt ein Motiv an, dass beispielsweise in der Exil- und Migrationsliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts und ganz gegenwärtig wieder in den Geschichten, die uns täglich in Zeitungen über die Flüchtlingsschicksale berichtet werden, eine zentrale Rolle spielt: Flucht und Vertreibung. Die Geschehensmuster, die mit „Heimat“ assoziiert sind und von literarischen Texten immer wieder erzählt oder angedeutet werden, haben unterschiedliche, aber dabei jeweils typische emotionale Bedeutungen. Das Unterwegssein oder der Aufenthalt fern der Heimat kann beglückend, horizonterweiternd oder, als Irrfahrt oder Kampf ums Überleben, qualvoll sein, verbunden mit Heimweh bzw. Sehnsucht nach der Heimat. Heimkehr wiederum kann ebenfalls als beglückend oder auch desillusionierend dargestellt werden. Den Kriegsheimkehrer Odysseus beispielsweise erwartet nach langer Irrfahrt zunächst nichts Gutes.
Oft entfällt die Heimkehr in Heimatgeschichten ganz oder bleibt eine Phantasie – wie in Hermann Hesses Versen „Von Heimat, Garten, Haus und Baum / ist nichts geblieben als mein Traum“. Oder in den letzten Versen eines Abschiedsgedichts von Marie Luise Kaschnitz („Abschied vom Osten“): „zieh hin, du wirst nicht wiederkehren. / Vergessen aber wirst Du nicht.“ In Heimatgeschichten kann die Rückkehr in die alte Heimat auch ersetzt werden durch den dauerhaften Aufenthalt in einer neuen Heimat.
Ein für die typischen Szenarien von Heimatliteratur kennzeichnender Bestandteil ist das Reisen, in Nietzsches Gedicht die Wanderschaft. Solche Reisen in die Fremde haben häufig, so der Ethnologe Hans Peter Duerr, die ,,Bedeutung der Initiation: […] nur derjenige kennt seine Erfahrung und seine Lebensform, der über ihre Grenzen ,hinaus geflogen‘ ist.“ Der Gewinn solcher Grenzüberschreitungen liegt darin, dass man nach seiner Rückkehr aus der Fremde die eigene, vertraute Lebensform ebenfalls als fremde wahrzunehmen vermag. Sie verliert ihre vormalige Selbstverständlichkeit und wird erst dadurch bewusst erkennbar. In einem Gespräch mit Gustav Janouch soll Franz Kafka 1924 gesagt haben: „Man muss in die Ferne gehen, um die Heimat , die man verlassen hat, zu finden.“
Initiationsreisen durch die Fremde liefern ein topographisches Modell, das zumeist eine Form dialektischer Vermittlung des ,,Eigenen“ und des ,,Fremden“ veranschaulicht, und zwar in unterschiedlichen Problemzusammenhängen. Den drei Phasen im prototypischen Muster von Initiationsreisen entspricht die triadische Konzeption individueller und kollektiver Entwicklungsgeschichten, die eine lange Tradition haben: Der einzelne oder die Gattung Mensch befindet sich gegenwärtig fern der Heimat in einem Zustand der Entfremdung, durch den er hindurch muss, um auf höherer Reflexions- und Entwicklungsstufe in die Heimat zurückzukehren.
Nietzsches Gedicht enthält allerdings keine Andeutungen, die eine solche Rückkehr möglich erscheinen lassen. Von den in seiner Zeit und weit über sie hinaus verbreiten regionalistischen und nationalen, antimodernen und antiaufklärerischen Tendenzen der „Heimatliteratur“ und dann auch des „Heimatfilms“ bleibt es gänzlich frei. Allerdings legen die zitierten Strophen und der Titel „Vereinsamt“ emotionale Missverständnisse seitens der Lesenden durchaus nahe. Um diese zu beschreiben, ist es zunächst nötig, zwischen den Emotionen, die ein Text seinen Figuren zuschreibt, und denen, die mit ihm bei den Lesenden hervorgerufen werden oder werden sollen, zu unterscheiden. Vielfach rechnen literarische Techniken der Emotionalisierung damit, dass die Emotionen der Figuren, zumindest wenn sie nicht als unsympathisch gezeichnet sind, von den Lesenden mit Empathie nicht nur verstanden, sondern zumindest partiell auch übernommen werden. Auch die zitierten Strophen verführen dazu, sich mit den Einsamkeitsgefühlen des lyrischen Ichs, der Klage über den Heimatverlust und der Angst vor der immerwährenden Kälte fern der Heimat zu identifizieren, zumindest Mitleid mit dem Klagenden zu empfinden und die Verse „Versteck‘ du Narr, / Dein blutend Herz in Eis und Hohn!“ als einsichtige Selbstkritik und Ausdruck von Reue-Gefühlen zu verstehen, die als eine wichtige Voraussetzung dafür gilt, dass jemand des Mitleids würdig erscheint. Beim Schreiben der vollständigen Fassung scheint Nietzsche diese mögliche Wirkung befürchtet und versucht zu haben, sich ihr zu widersetzen und den Adressaten einen anderen emotionalen Effekt nahezulegen. Überzeugend geglückt ist ihm das nicht. „Vereinsamt“, so lässt sich behaupten, ist zumindest unter ästhetischen Gesichtspunkten ein „gelungeneres“ Gedicht als das vollständige und hat seinen Nachruhm zu Recht verdient. Die handschriftlich überlieferte Fassung trägt den demonstrativen Titel Der Freigeist und wehrt sich gegen ein Misslingen der Emotionalisierungsabsichten der zitierten Strophen ausdrücklich.
Der „Freigeist“, der aus der „Heimat“ geflohen ist und sich damit von alten, gemeinschaftlich geteilten, Nähe, Wärme und Halt verschaffenden Bindungen und Werten verabschiedet bzw. befreit hat, leidet zwar unter dem Heimatverlust und gesteht sich dieses Leiden ein. Und man könnte ihn beim Lesen deshalb bemitleiden. Aber dem, der emotional auf dessen Selbstbeschreibung so reagiert, hält das vollständige Gedicht eine „Antwort“ entgegen:
Daß Gott erbarm‘!
Der meint, ich sehnte mich zurück
In’s deutsche Warm,
In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück!
In der anschließenden, letzten Strophe, die nicht eben leicht zu verstehen ist (auch das rechtfertigt die Kürzung der ursprünglichen Fassung bei der Erstveröffentlichung), ist von „Mitleid“ die Rede.
Mein Freund, was hier
Mich hemmt und hält, ist dein Verstand,
Mitleid mit dir!
Mitleid mit deutschem Quer-Verstand!
Mitleid, allerdings eher ein verächtliches, verdient derjenige, der sich mit deutschem Quer-Verstand ins dumpfe deutsche Stuben-Glück zurücksehnt, nicht der Freigeist, der dem Schmerz des Heimatverlustes und der Sehnsucht nach Rückkehr trotzig standhält, der sein blutend Herz versteckt „in Eis und Hohn“. Weh dem, der eine Heimat hat!
„Die Rolle des Sprechers als ,Einsamer‘ wird im Vollzug der Rede“ – so formuliert der Literaturwissenschaftler Jörg Schönert seine fundierte, auf den Zarathustra-Kontext gestützte Interpretationsthese – „in ‚heroischer Weise‘ angenommen; sie soll nicht Mitleid […], sondern Bewunderung auf sich ziehen. Diese heroische Haltung schließt den Kampf gegen widerständige Wünsche zum Festhalten am Gewohnten ein.“ Schönert verweist in diesem Zusammenhang auf eine der Notizen, die sich Nietzsche bei der Planung zu einer Sammlung eigener Texte machte: „Dies sind die Lieder Zarathustra’s, welche er sich selber zusang, dass er seine letzte Einsamkeit ertrüge.“
Die handschriftliche Fassung mit dem Zusatz zu der Abschiedsrede des Freigeistes ist sicher nicht die ästhetisch gelungenere. Wer immer für die Streichung des Zusatzes und die Änderung des Titels verantwortlich war, er hat dem damals bereits schwer kranken Autor einen guten Dienst erwiesen. Und er entsprach damit einer anderen Notiz, die sich Nietzsche im Hinblick auf die von ihm geplante Sammlung machte: „Vereinsamt ‚die Krähen schreien‘“. Aber erst die den Herausgebern der kritischen Nietzsche-Ausgabe zu verdankende Kenntnis der vollständigen Fassung ermöglichte eine neue und wohl angemessenere Lesart von Vereinsamt. „Erst durch die gründliche Aufarbeitung der nachgelassenen Handschriften Nietzsches für die von Colli und Montinari herausgegebene Kritische Gesamtausgabe“, so Jörg Schönert, „wurde ,Der Freigeist’ als ‚Rollengedicht‘ in zweiteiliger Rede (,Abschied’ und ,Antwort’) verstanden.“
Aber die Bewunderung dem gegenüber, der zugunsten seiner geistigen Freiheit der Heimat entflohen ist und über seine Einsamkeit erhaben bleibt, steigt mit der in der gekürzten Fassung ungebrochenen Nachvollziehbarkeit des Schmerzes, den diese Flucht hervorruft. Und eine Hilfe gegen den Schmerz, so wird in der gekürzten Fassung noch deutlicher als in der vollständigen, ist nicht zuletzt das literarische Schreiben darüber, das „Lied im Wüsten-Vogel-Ton“ und seine ästhetische Formung. Auch sie evoziert Emotionen, in der literaturwissenschaftlichen Forschung zuweilen als „Artefakt-Emotionen“ bezeichnet, die andere Emotionen überlagern. Zu den Effekten von regelmäßigen Wiederholungen, wie sie das Gedicht in der gekürzten Fassung mit artifizieller Konsequenz bis zum letzten Vers praktiziert, gehört das Wiedererkennen von Bekanntem und Vertrautem, das auch in Heimat gesucht wird, das Sicherheit gibt und Orientierung erleichtert. Der Monolog des dichtenden Freigeistes mit seinen rhythmischen, syntaktischen, semantischen und mit den phonologischen Wiederholungsmustern in zahlreichen Alliterationen und den Reimen gibt dem Autor wie den Lesenden etwas von dem Halt und der Vertrautheit mit bereits Bekanntem, die im Gefühl der Heimatlosigkeit fehlen. Die ästhetische Strukturierung schafft eine Art Gegengewicht zum Verlust. Heim reimt sich eben auf Reim. Die „tausend Wüsten stumm und kalt“ fern der Heimat sind als ästhetisches Phänomen erträglicher als in der prosaischen Realität.
Literaturhinweise
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Jörg Schönert: Friedrich Nietzsche: „Der Freigeist“. In: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Jörg Schönert, Peter Hühn, Malte Stein. Berlin / New York 2007. S.185-196
Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 7. Abt., Bd. 3: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1884 bis Herbst 1885. Berlin / New York 1974. S. 37 f.
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Band 11: Nachgelassene Fragmente, 1884-1885. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, S. 329 f..
Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf dem überarbeiteten Teil eines Vortrags, den der Verfasser auf der internationalen Tagung “RAUM – GEFÜHL – HEIMAT. Literarische Repräsentationen nach 1945“ an der Universität des Baskenlandes in Vitoria-Gasteiz gehalten hat. Die Tagung fand am 23. bis 25.9.2015 statt und wurde organisiert von Dr. Garbiñe Iztueta, Prof. Dr. Mario Saalbach, Dr. Carme Bescansa und cand. phil. Iraide Talavera. Eine Dokumentation der Tagung erscheint 2016 als Buch im Verlag LiteraturWissenschaft.de.
Der Beitrag gehört zu der Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.