Russische Besonderheiten und Eigenarten

Der Philosoph Nikolaj Berdjaev ermöglicht landeskundliche wie auch mentalitätsgeschichtliche Zugänge

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man, vor allem in heutiger Zeit, noch von nationalen Ideen sprechen? Gerade in Russland gibt es ein ungebrochenes Interesse am eigenen Selbstbild, das sich seiner Herkunft im Zusammenhang mit mentalitätsgeschichtlichen Betrachtungen widmet. Dabei geht es nicht nur um eine leidenschaftliche Diskussion, sondern um gemeinsame Werte, die nicht zuletzt für den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft stehen.

Der russische Philosoph Nikolaj Berdjaev (1874–1948) hatte seine Studie „Die russische Idee“ in seinen letzten Lebensjahren verfasst. Sie erschien erstmals 1946 in Paris. Der Untertitel „Grundprobleme des russischen Denkens im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ skizziert den Ausgangspunkt von Berdjaevs Überlegungen: „Das russische Thema des 19. Jahrhunderts läßt sich so definieren: stürmischer Wille zum Fortschritt, zur Revolution, zu den letzten Errungenschaften der Weltzivilisation, zum Sozialismus und gleichzeitig ein tiefes und deutliches Bewußtsein von der Leere, der Mißgestalt, der Seelenlosigkeit und dem Spießigen aller Ergebnisse des westlichen Fortschritts, der Revolution, der Zivilisation usw.“

Diesem Situationsbefund folgen zehn Kapitel, in welchen Berdjaev einschlägige Themenkreise wie etwa das Spannungsfeld „Rußland und Europa“, „Die gesellschaftliche und soziale Frage“ aber auch „Herrschaft und Anarchie“ umkreist. Mit gewohnt intellektuellem Temperament erläutert der Philosoph kulturspezifische Begriffe wie etwa die russische Glaubensspaltung „Raskol“.

Berdjaevs Überlegungen kommen dabei seine lebenslangen Reflexionen bezüglich russischer Eigenheiten in Geschichte, Philosophie und Politik zugute. Da er seit 1922 aus politischen Gründen gezwungen war, im europäischen Exil zu leben, konnte er zu seinen russischen Erfahrungen die europäische Lebenswirklichkeit in ergänzender Weise hinzufügen. Anhand von Begriffen wie „russischer Messianismus“ oder „russischer Sozialismus“ zeigt Berdjaev konkrete Auswirkungen des philosophischen Denkens wie auch mentaler Einstellungen und kulturhistorischer Entwicklungen auf. Es gelingt ihm der Nachweis, dass der Gedanke der unbedingten Wahrheit sowie die Sehnsucht nach Gerechtigkeit grundlegende Anliegen in Russland waren, während zugleich, auch im geistigen Sinne, Strukturen einer unbeweglichen Machtdynastie vorherrschten.

In der Berührung mit europäischen Entwicklungen war in Russland jedoch eine gewaltige Dynamik in Gang gekommen, die in der Denkwelt sowohl die sogenannten „Westler“ als auch ihren Widerpart, die „Slawophilen“ hervorbrachte. Dabei ist zu beachten, dass die „Slawophilen“ nicht, wie ideologisierte Parteigänger auch heute noch in Umlauf setzen, gegen Europa ausgerichtet waren, sondern dass sie ihre Hoffnungen auf die eigenen kulturellen Besonderheiten setzten.

Berdjaevs wiederholt vorgetragener Hinweis auf die Wertschätzung der Freiheit bei einem der Vordenker der Slawophilen, Alexej Chomjakov (1804–1860), erfolgte ganz bewusst. Auch das von Chomjakov aufgegriffene Prinzip der „Sobornost“ war letztlich zugunsten der menschlichen Persönlichkeit und in Gegnerschaft zu einem unkontrollierten Etatismus gedacht. Das komplexe Sobornost-Konzept kann mit „Konziliarität“, „Versammlung“ oder „Synodalität“ nur unzureichend in das Deutsche übersetzt werden. Es umfasst einen eigenständigen Zugang zur Wahrnehmung der Welt im weitesten Sinne. Sobornost entfaltet sich sowohl jenseits der Machtvertikale römisch-katholischen Kirchenrechts wie auch eines bis nahezu zur Beliebigkeit neigenden protestantischen Liberalismus und vermeidet sowohl die egoistische Vereinzelung wie auch das verantwortungslose Kollektiv. 

Angesichts der von Berdjaev ausgebreiteten Fülle russischer Ideen- und Gedankenwelten überrascht das Zusammenspiel von übernommenen Anregungen fremder Kulturen mit eigenen Entwicklungen. Die russische Philosophie, die zumal im späteren 19. Jahrhundert und vor allem im frühen 20. Jahrhundert ein geradezu atemberaubendes Tempo aufgenommen hatte, war in die Lage gekommen, genuine Akzentuierungen, ja eigenständige Entwürfe anzubieten. Umso verheerender sollte sich gerade in diesem Zusammenhang die Entfesselung sinnloser Gewalt im Umsturz der Oktoberrevolution auswirken. Ein gewaltiger Aderlass für das ganze Land, dessen Folgen bis heute nachwirken.

Als russischer Patriot hatte Nikolaj Berdjaev diese zivilisatorische Katastrophe für sein Land miterlebt und auch zu analysieren versucht. Er war zutiefst davon überzeugt, dass sich, ganz im Sinne ureigenster russischer Tradition, die Wahrheit ihre Bahn brechen wird. So sehr der russische Mensch zu allen Zeiten mehr oder weniger akzentuierter Unterdrückung unterworfen war, so eindrucksvoll lässt sich ein unbändiger Wille zur Freiheit und zur Gerechtigkeit aufzeigen. Russlands Geschichte und die Geschichte seiner Denker bildet somit zugleich ein Kapital für eine menschlichere Zukunft.

In jedem Falle ist dem Academia Verlag zu danken, eine zweite, vom Übersetzer überarbeitete Ausgabe dieser wichtigen Schrift vorgelegt zu haben. Dietrich Kegler hat sich als sachkundiger und sorgfältiger Herausgeber, Kommentator und Übersetzer aus dem Russischen von weiteren Schlüsseltexten so renommierter Philosophen wie Simon Frank, Nicolaj O. Losskij oder Vasilij Zenʼkovskij einen Namen gemacht. Hier werden nachbarschaftliche Zugänge erschlossen, die ein gegenseitiges Verständnis ermöglichen. Eine Unternehmung, die im heutigen Europa des Zusammenwachsens aktueller ist, denn je.

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Die russische Idee. Grundprobleme des russischen Denkens im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
2. überarbeitete Auflage.
Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Dietrich Kegler.
Academia Verlag, Sankt Augustin 2015.
252 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783896656698

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