Das Recht über sich selbst

Der Historiker Daniel Münzner hat eine gelungene biographische Studie über den großen Publizisten und Aufklärer Kurt Hiller geschrieben

Von Bastian SchlüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Schlüter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Zankapfel“ und „Stänkerer“ ist Kurt Hiller genannt worden von denjenigen, die sich durch seine vielzähligen Invektiven getroffen sahen. Mit schneidender Feder schrieb er und nutzte die Sprache als Florett, mit dem er zielgenau und nicht selten verletzend treffen wollte. In aufklärerischer Absicht hat Hiller dabei stets gehandelt, und jene, die sich in seinen Augen solcher Aufklärung verweigerten, sie gar bekämpften, hat er selbst in seiner Publizistik bekämpft – und dies bisweilen unerbittlich. Wer Hillers Polemiken heute liest, kann die brillante Verve seiner Einlassungen bewundern, kann sie in ihrer geschliffenen Rhetorik sehr wohl als Meisterstücke der Essayistik genießen. Und doch stellt sich dabei nicht selten der Eindruck der Überzogenheit ein. Hier schlägt einer, wissend um seine Fertigkeiten, mit Sprache um sich und schießt aus allen rhetorischen Rohren, um den Gegner ja nicht zu verfehlen. Inzwischen ist man wohl sensibler dafür: Wer so agiert, der schreibt unter Umständen nicht von souveränem Ort aus, sondern vielmehr aus der Defensive, aus der Position des Außenseiters.

Es sind solche Einsichten, von denen auch Daniel Münzers Studie zu Kurt Hiller ausgeht – ein Buch, von dem man zunächst einmal sagen muss: Gut, dass es endlich da ist, denn eine Biographie über Kurt Hiller fehlt seit langem. Kurt Hiller, 1885 in Berlin geboren, am besten bekannt als eine Gründerfigur des literarischen Expressionismus, war außerdem ein wichtiger Protagonist der ersten deutschen Homosexuellenbewegung um Magnus Hirschfeld und das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“, später engagierter Pazifist, Autor der „Weltbühne“ und „Logokrat“, er verstand sich als Vordenker einer mit der Demokratie nicht ganz leicht ins Reine zu bringenden geistigen Eliteherrschaft. Nach Monaten der Folter in den frühen Konzentrationslagern 1933/34 wurde er im englischen Exil, in das er sich retten konnte, Mitarbeiter des Geheimdienstes MI5 und verfasste Berichte über politisch Verdächtige von rechts wie von links, durchaus aus Dank und Wertschätzung seinem Gastland gegenüber. Nach seiner Remigration nach Deutschland 1955 näherte er sich in Hamburg der Sozialdemokratie an – aus Bewunderung zunächst für Kurt Schumacher und später für Willy Brandt. In seinen letzten Lebensjahren wurde er in einem Kreis von Hamburger Studenten quasi zu einem „APO-Opa“, wenn auch nicht ganz konfliktfrei. Spätestens mit seinem Tod 1972 verlor sich das Interesse an den Positionen und Schriften dieses wahrlich exzeptionellen Intellektuellen jedoch mehr und mehr, dessen Ziel nichts Geringeres gewesen war als eine mit politischer Energie und souveränem Verstand ins Werk gesetzte Verbesserung der Welt. Leicht schon lassen die Stichworte zu seinem Lebenslauf erkennen, wie ertragreich eine Biographie über Kurt Hiller zwischen Ästhetik und Politik, zwischen radikaler Emanzipation und elitärer Geistesherrschaft sein dürfte.

Eine Biographie im herkömmlichen Sinne ist Daniel Münzners Buch „Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter“ aber dann doch nicht geworden – der Autor schließt vielmehr an jüngere Herangehensweisen in der Geschichtswissenschaft an, die auf biographische Darstellungsarten zwar zurückgreifen, sie aber methodisch reflektiert und jeweils ganz spezifisch angelegt für die Intellektuellengeschichte nutzen. Münzner nähert sich Hillers Leben und Werk aus drei Analyseperspektiven, die jeweils in den Begriffen des Antiintellektualismus, des Antisemitismus und der Homophobie kondensieren. Hillers Vita rückt so bei aller Individualität als markantes Beispiel für ein exemplarisches Leben eines Intellektuellen im 20. Jahrhundert in den Blick, das massiv geprägt war von den sich in den drei genannten Begriffen spiegelnden Diskriminierungs- und Verfolgungserfahrungen – von hier aus wird nicht zuletzt Hillers Hang zur angespitzten Polemik verständlich als Selbstbehauptung eines in mehrfacher Hinsicht zum Außenseiter gemachten Intellektuellen, der als solcher, ganz besonders aber als Jude und Homosexueller offenen und strukturellen Anfeindungen ausgesetzt war.

Münzner legt dieses Vorgehen im Einleitungskapitel seiner Studie präzise dar und begründet überzeugend das von der derzeit sehr gefragten Intersektionalitätsforschung beeinflusste Herangehen: Nicht getrennt können Antiintellektualismus, Antisemitismus und Homophobie betrachtet werden, sondern sie sind in ihren Überlagerungen und Interdependenzen zu analysieren – genauso, wie sie von den Subjekten in der historischen Situation als einander überlagernd erfahren wurden. So plausibel und gelehrt die Einleitung auch daherkommt, so macht sie doch ein wenig Angst, dass es in den folgenden Kapiteln allzu analytisch-dröge zugehen könnte. Diese Befürchtung stellt sich allerdings als unbegründet heraus, denn Münzner schreibt in einem eleganten, gut lesbaren Stil, der erkennbar nicht nur die Fach-Historiker erreichen will, sondern sich mit seinen stets einbezogenen knappen Orientierungen zum historischen Kontext deutlich an ein breiteres Lesepublikum wendet. Die dreifache analytische Perspektive verhindert vorschnelle Synthetisierungen, der Autor lässt sie aber zugunsten einer flüssigen historiographischen Narration im Darstellungsteil auch immer wieder dezent zurücktreten.

Die sich an der politischen Geschichte chronologisch orientierende Kapitelfolge vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, das Exil und die Nachkriegsgeschichte nach 1945, die sodann jeweils noch einmal nach methodischer Vorgabe dreigeteilt ist, schafft ein gutes Ineinander von analytischer Perspektivierung und lesefreundlicher Darstellung. Gut nachvollziehbar kann Münzner so den geistigen wie politischen Weg nachzeichnen, den Hiller im Laufe seines Lebens zurückgelegt hat: Die überschießende und elitäre Radikalität seiner aufklärerischen Ambitionen ließen ihn im Kaiserreich und der Weimarer Zeit die Demokratie und ihre politische Kultur als allzu banal erscheinen. Nach Verfolgung und Exil gelang es ihm aber, die junge bundesrepublikanische Demokratie wertzuschätzen und zu unterstützen. Er nahm nicht Konrad Adenauer, mit dem er nichts anfangen konnte, als deren wichtigen Repräsentanten wahr, sondern die Führer der Sozialdemokratie wie Kurt Schumacher oder Willy Brandt. Sie waren ihm nicht nur politisch, sondern eben auch als Intellektuelle satisfaktionsfähig und ebneten so für Hiller den Weg, sich mit der Demokratie auszusöhnen.

Marginale Kritik an Münzners im Ganzen mehr als gelungener Studie richtet sich auf zwei durchaus miteinander korrespondierende Abschnitte: Neben die intellektuellengeschichtliche Rekonstruktion hätte stärker noch die ideengeschichtliche Erhellung im weiteren Sinn treten können. So ist es völlig plausibel und folgt der angelegten Methode, dass Münzner das Jüdische vornehmlich als politisch-soziale Konstruktion im Blick hat, im Falle Hillers allzu oft eingekleidet in die diskriminierenden Sprechakte des Antisemitismus, überhaupt als identitäre Fremdzuschreibung. Dass Hillers weitgesteckte Rückgriffe auf jüdische Geschichts- und Religionsphilosophie, auf messianische Denkfiguren und eine rein immanente „Melioristik“ dabei nahezu gar nicht weiter vermessen werden, erstaunt doch ein wenig. Etwas mehr erfahren hätte man gerne auch über Hillers stupende rechtsphilosophische Dissertation „Das Recht über sich selbst“ von 1908, über den wissenschafts- und denkgeschichtlichen Ort dieses Buches, das deutlich und früh die Abschaffung der Paragrafen 175 und 218 des Reichsstrafgesetzbuches rechtsphilosophisch fundiert forderte und zudem im intellektuellen Dunstkreis so großer Gelehrter wie Georg Simmel, Franz von Liszt und Gustav Radbruch entstanden ist.

Es sei aber wiederholt: Daniel Münzner hat eine gleichermaßen akribisch recherchierte, methodisch überzeugende wie bestens lesbare Studie zu Kurt Hiller vorgelegt. Am Ende jedoch sollte man nicht nur dieses Buch über Hiller empfehlen, sondern gleich die gesamten Schriften Hillers selbst. Vielleicht kann Münzners biographische Arbeit über Hiller sogar dazu anstiften, das Œuvre dieses imponierenden Intellektuellen, glänzenden Stilisten und radikalen Aufklärers auch in den Buchkatalogen wieder leichter greifbar werden zu lassen – im Rahmen einer Gesamtausgabe etwa, mindestens aber doch als gut kommentierte Auswahledition. Das Verlagshaus, in dem Münzners Studie erschienen ist, darf man als geradezu prädestiniert für ein solches Unternehmen ansehen.

Titelbild

Daniel Münzner: Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter.
Wallstein Verlag, Göttingen, Niedersachs 2015.
414 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317734

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