„Der Song ist doch viel zu lang“

Auf „The Cutting Edge“ gräbt Bob Dylan tief und findet unbezahlbare Schätze

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Als 2014 nach fast 50 Jahren endlich die kompletten „Basement-Tapes“ als Teil der „Bootleg Series“-Reihe erschienen, schien der Heilige Gral der Dylan-Fans endlich ans Tageslicht befördert worden zu sein. Jahrzehntelang waren die Aufnahmen als Bootlegs erst durch die Plattenbörsen, dann durchs Internet gegeistert, nun konnte man sie, zumal in bestechender Tonqualität, geordnet und kommentiert erwerben. Schon in den Jahren davor waren die Weihnachtsgeschenke in Form der „Bootleg Series“ für Dylan-Anhänger üppig gewesen, von legendären Live-Konzerten bis hin zu den ausgegrabenen Sessions für das verteufelte „Self Portrait“-Album, die in großen Teilen spannender waren als das Album selbst. Zu Martin Scorseses Dokumentarfilm „No Direction Home“ war in der Reihe zudem ein Album erschienen, das – als Soundtrack deklariert – verschiedene bislang unbekannte Alternativversionen bekannter Tracks aus mehreren Schaffensphasen Dylans präsentierte.

Was die Macher dieser einzigartigen Reihe nun 2015 im Zusammenhang dieser alternativen Studioaufnahmen aus dem Hut zaubern, ist indes eine faustdicke Überraschung: Nicht weniger als jeder im Studio mitgeschnittene Ton von den Aufnahmen der drei Alben, die Dylans Goldene Phase ausmachen: „Bringin’ It All Back Home“, „Highway 61 Revisited“ und „Blonde On Blonde“ aus den Jahren 1965 und 1966. Da aber dies selbst für Dylan-Freaks etwas zu viel des Guten ist, gibt es die kompletten Sessions nur in einer exklusiven 600 Dollar-„Collector‘s Edition“ in streng limitierter Auflage auf Dylans Website. Auf insgesamt 18 CDs ist hier sicherlich allerlei redundantes enthalten, endlose lose Enden, die nicht zusammenfinden, Studiogespräche, abgebrochene Takes, irres Gelächter. Aber dafür wirklich alles, was die Bandmaschinen mitgeschnitten haben. Für Musikhistoriker ist die Box jedoch ein großer Schatz, weil die Entwicklungsgeschichte nicht nur der drei Alben minutiös rekonstruiert werden kann, sondern auch eine Phase in der Popgeschichte beleuchtet wird, in welcher diese mit Hilfe Dylans ihren größten Umsturz erleben konnte: Die Intellektualisierung des Pop aufgrund der Verschmelzung des traditionellen Folk mit der populären Rockmusik.

Für die Normalsterblichen filtert die handelsübliche „Special Edition“ auf sechs CDs die interessantesten Aufnahmen heraus und erteilt eine ebenso unbezahlbare, wenn auch leichter verdauliche Geschichtsstunde: Der Hörer wird Zeuge des Entstehungsprozesses dieser zeitlosen Klassiker; er kann beobachten, wie Dylan seine Songs zunächst akustisch einspielt, nach und nach werden Instrumente hinzugefügt. Manchmal werden die neu entstandenen Versionen wieder verworfen, manchmal aufgegriffen. Auch der Sound wird von Take zu Take dichter, die Arrangements ausgefeilter, bis man zuguterletzt fast bei der auf dem Album gelandeten Version angekommen ist. Anders als bei der 18-CD-Edition kann man diesen Prozess nur in gefilterter Form verfolgen, von einigen Songs gibt es dennoch vier bis fünf chronologisch angeordnete Takes, so dass die Entwicklung anschaulich wird. Eine Ausnahme ist „Like A Rolling Stone“, dessen Entstehungsprozess eine ganze CD gewidmet ist, die über zwanzig Versionen enthält. Das Interessante hierbei ist, dass diese alternativen Versionen den Originalen in manchen Fällen ebenbürtig sind oder sich den Songs gar neue Aspekte abgewinnen lassen. So ist die gleich am Anfang des Sets dargestellte Entwicklung von „Love Minus Zero/No Limits“ anhand von vier Versionen schlichtweg atemberaubend anzuhören. Wer zum Beispiel schon immer der Meinung war, Dylan singe schief, der kann sich anhand der ersten beiden Takes, die eher wie frühe Demos klingen, anhören, wie es klingt, wenn Dylan wirklich schief singt, und wie nuanciert er seinen Gesang von Take zu Take entwickelt.

Aber es sind auch einige abgebrochene, verhaspelte Versionen bekannter Songs, die einen mal feixenden, mal genervten Dylan zeigen, die nicht nur einen historischem Mehrwert darstellen, sondern auch ein unterhaltsames Hörerlebnis garantieren, das manchmal viel näher an einem Hörspiel als an einer Sammlung von Rocksongs ist. Wer hätte etwa gedacht, dass der Meister keinen Bock auf „It’s Alright, Ma, I’m Only Bleeding“ hatte, weil der ihm schlichtweg zu lang war? Als Produzent Tom Wilson Dylan erklärt, der Song stehe als nächster auf seiner Liste, sagt dieser: „Oh man, that’s much too long…“ und entscheidet sich zunächst für ein anderes Stück. Tatsächlich wird gerade bei den Aufnahmen zu „Bringin’ It All Back Home“ deutlich, dass es die lässige Präsenz Wilsons, damals der einzige schwarze Produzent im Mainstream-Pop-Business, war, die Dylans Kreativität in die richtigen Bahnen lenken konnte. Sein Umgang mit dem egozentrischen Star changiert zwischen einer ironisch-gebrochenen Autorität und dem Eingeständnis, dass Dylan nun mal der Boss sei. Erstaunlich ist zudem die Soundqualität. Der Hörer glaubt tatsächlich, mit Dylan und seinen Produzenten – erst Wilson, dann Bob Johnston – im Tonstudio zu stehen, so klar klingen die Lieder und Dialoge.

Leider fehlen auf der 6-CD-Edition  jene sagenumwobenen Aufnahmen, die Dylan in jener Zeit in Hotelzimmern machte, und auf denen teils erste Versionen von später berühmten Songs zu finden sind, wie auch einige Stücke, deren Entwicklung er nie weiter verfolgt hat; diese Aufnahmen liegen nur als Bonus der 600,- Dollar Box bei. Wem das alles zu viel Popgeschichte und zu wenig tatsächlich konsumierbare Musik ist, der kann mit einer Art ‚Best-Of’-Doppel-CD vorlieb nehmen, auf der eine Auswahl an Aufnahmen versammelt ist.

Bob Dylan
„The Cutting Edge (The Basement Tapes Vol. 12) – Deluxe Edition“ (6 CDs)
(Columbia/Sony)

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz