Wenn die Illusion zerbricht

In „So fängt das Schlimme an“ gibt sich Juan de Vere der Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit hin, auch wenn sie sich ihm als nicht zu füllender Hohlraum präsentiert

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Pedro Almodóvars Laberinto de pasiones werden die Tabus der Franco-Diktatur auf obskure und schonungslose Weise aufgebrochen. In den Jahren des Erwachens der spanischen Kulturbewegung nach Francos Tod ist es vorbei mit der Anpassung und Unterdrückung. So lässt der spanische Regisseur einen hübschen Homosexuellen sich in eine junge Nymphomanin verlieben und die Kamera zu Beginn des Films immer wieder begehrend auf den Schritt fremder Männer schwenken.

Auch Javier Marías neuer Roman So fängt das Schlimme an spielt in jenen Jahren der transición, jener Zeit des Übergangs von der Franco-Diktatur zur Demokratie; Jahre, in denen die Spanier vom engen Korsett des Franco-Regimes befreit wurden und ihnen eine freie Ausgestaltung der eigenen Lebens wieder möglich geworden war. Doch die Auflösung des Eheversprechens war noch bis 1981 nicht erlaubt und so lebten zahlreiche Paare – wie hier der Filmregisseur Muriel und seine Frau Beatriz – in einer Beziehung, die eher von distanzierter Entfremdung als von Resonanz gekennzeichnet ist. Während Junggesellen, wie der Erzähler dieses Romans, frei zwischen ihren sexuellen Erlebnissen hin und her changieren konnten, mussten Ehefrauen und -männer weiterhin heimlich ihren Begierden nachgehen.

In dieses gesellschaftliche Milieu bettet Marías seine Romanfiguren ein und lässt sie auf ganz unterschiedliche Weise die Frage beantworten, wie mit der Vergangenheit – der Franco-Diktatur oder begangenen Täuschungen, die manchmal sogar das Fundament einer Liebesbeziehung formen – umzugehen ist. Während einige Figuren zu regelrechten Verfechtern der Wahrheit – zu Rittern der traurigen Gestalt, wie Nietzsche sie in Jenseits von Gut und Böse nennt – werden, die teils allein um der Wahrheit willen ihre Kämpfe ausfechten – als bräuchte die Wahrheit ihre Verteidiger –, so nehmen es andere mit der Wahrheit nicht ganz so eng und gehen mit der Täuschung um, als wäre sie die Wahrheit und umgekehrt. Sie scheinen Nietzsches Gedanken, dass es ein moralisches Vorurteil sei, dass die Wahrheit mehr wert ist als der Schein, fortzuschreiben.

Marías äußerte sich in einem Interview mit der Zeit, dass im Zuge der Generalamnesie nach der Franco-Diktatur Schlimmes akzeptiert werden musste, um das Schlimmere zu verhindern. Dies bedeutet natürlich, dass man eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den begangenen Verbrechen konstatieren könnte, doch Marías verdeutlicht in So fängt das Schlimme an,dass gerade diese scheinbare Indifferenz, die sich wie ein Tuch über die Jahre der Diktatur in Spanien legte, einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft überhaupt erst möglich machte. Wie wandelbar die eigenen Ansichten über den Umgang mit der Wahrheit sein können, zeigt Marías anhand der Figur des Filmregisseurs: Dieser beharrt zu Beginn darauf, die Gerüchte über den Arzt van Vechten – der während der Diktatur zwar zahlreichen Familien seine ärztlichen Dienste anbot, sich aber unschicklich gegenüber Frauen verhalten haben soll – bestätigt oder widerlegt zu wissen, ganz als hinge sein persönliches Seelenheil davon ab, um sich am Ende dann doch dagegen zu entscheiden, über die genauen Sachverhalte in Kenntnis gesetzt zu werden.

Dem französischen Psychoanalytiker Jaques Lacan zufolge ist alles Erkennen Verkennen, da man die Sache selbst nie zu Gesicht bekommen kann. Auch Marías schreibt sich mit So fängt das Schlimme an in diese Annahme ein: „Wir müssen uns mit groben Schätzungen und Annäherungen begnügen, können sie [die Wahrheit] nur umkreisen, aus der Distanz nach ihr spähen oder durch Schleier und Nebel hindurch, vergebens, es ist töricht, sein Leben damit zu vergeuden. Und dennoch, und dennoch…“ Und dennoch will der Erzähler Juan de Vere bis auf den Grund der Tatsachen hinabtauchen, um zu erfahren, warum Muriel seiner Ehefrau Ablehnung statt Liebe, Verachtung an Stelle von Begierde, entgegenbringt. Dass er sich hierbei zunächst Mutmaßungen und Spekulationen hingeben muss und auch bei zunehmender Informationenmenge ihm ein unmittelbarer Zugang zum Eigentlichen verwehrt bleibt, hindert ihn nicht daran, sich auf die Bewegung des Nachspürens, des Verstehen-Wollens einzulassen, um so der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen; auch wenn dies stets nur eine Annäherung an die Sache selbst bedeuten kann. Denn wie sollte de Vere auch ein vollständiges Bild von der Wirklichkeit bekommen, wenn sich beispielsweise seine Informationen über die vom Leben enttäuschte Beatriz – ihre Selbstmordgedanken, ihre Trauer über den Verlust ihres erstgeborenen Kindes – lediglich aus Berichten Muriels oder seinen eigenen Vermutungen und Interpretationen speisen? „So hatte ich bis zu jener Nacht auf Beatriz Noguera geblickt wie auf ein Bild, das ein schwaches, flüchtiges Begehren hervorruft, zudem unmöglich zu befriedigen. Die Frau, die man betrachtet ist in einer Ebene gefangen, stumm und reglos bis in alle Ewigkeit; sie ist nichts als Haltung, Blick und Ausdruck, […] ihr Fleisch ist ohne Struktur“.

Der Erzähler und somit auch der Leser bekommen stets nur einen Ausschnitt der hier erzählten Wirklichkeit zu fassen, weswegen ihre Interpretationen unweigerlich von zahlreichen Fehlinterpretationen und Trugschlüssen begleitet werden. Untermauert wird der Partikularismus der Erfassung des Eigentlichen durch das Motiv der Augenklappe: Wir sehen die Wirklichkeit stets wie mit einem offenen und einem geschlossenen Auge und so müssen wir uns eingestehen, dass all unser Erkennen zahlreichen Einschränkungen unterliegt, die aus den Bedingungen von Zeit und Raum, individuellen Veranlagungen, Umgebung und Situationen resultieren. Die Wirklichkeit ist demnach nichts, was objektiv zu erfassen ist, sondern abhängig vom Standpunkt und den Eigenschaften des betrachtenden Individuums.

Die Übersetzerin Susanne Lange schreibt, dass immer, wenn der Erzähler zu einer Version der Wirklichkeit gelange, im nächsten Absatz die Dinge bereits in einem ganz anderen Licht erscheinen. So komme es zu einer Bewegung des Postulierens und Zurücknehmens, da sich die Figuren noch nicht einmal über ihr eigenes Selbstbild – das sie immer wieder aufs Neue konstruieren – sicher sein können. Dies spiegelt sich auch auf formaler Ebene des Romans wider: Marías wirft Themen und Motive auf, ergeht sich in essayistischen Reflexionen über den Ort der Wahrheit oder die Art und Weise, wie sich Verdrängtes immer wieder seinen Zugang zur Oberfläche verschafft, um dann über Seiten ganz anderen Betrachtungen nachzugehen, nur um plötzlich wieder auf die vorherigen Reflexionen, Motive oder Themen einzugehen. Die Zufälligkeit, mit der wir unsere Informationen über Ereignisse erhalten, wird hierdurch betont, und so kann sich der Leser auch am Ende des Romans nicht sicher sein, ob sich das Erzählte wirklich auf die Weise ereignet hat, wie es im Roman erzählt wird, oder ob die Erkenntnisse de Veres auf verzerrten Schilderungen Muriels basieren und somit seine „Wahrheit“ über die Vergangenheit des Filmregisseurs und seiner Frau auf Täuschungen beruht.

Dass der Leser am Ende des Romans die Darstellung der Wirklichkeit durch de Vere aber dennoch als gegeben akzeptieren kann, liegt darin begründet, dass er eine fiktionale Geschichte in den Händen hält und sich die Frage, ob sich das Erzählte nun auf eben jene Weise ereignet hat, wie es de Vere erzählt, daher erübrigt. Er kann sich zwar weigern, sich auf die erzählte Welt einzulassen, doch das wird ihm bei diesem Roman schwer fallen. Denn Marías flicht – einer Fuge gleich – seine Themen und Motive so kunstvoll und harmonisch in die Handlungsebene ein, dass der Leser sich genüsslich mitreißen lassen wird; mitreißen in eine ambivalente Wirklichkeit, in der Täuschung und Wahrheit, Gutes und Schlechtes teilweise so eng miteinander verwoben sind, dass alles stets aufs Neue in einem anderen Licht erscheint; je nachdem, ob wir mit de Vere Mutmaßungen anstellen, Muriel bei seinen Berichten, die er immer auf dem Boden liegend erzählt, zuhören, oder uns mit dem Filmregisseur völlig in Panik auf die Suche nach einer verschwundenen Beatriz begeben.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Javier Marías: So fängt das Schlimme an. Roman.
Übersetzt aus dem Spansichen von Susanne Lange.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
639 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024299

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