Ovids Abschied und Aufbruch in den „Tristien“
Von Dennis Borghardt
Das Grundszenario, von dem diese Leseempfehlung ausgeht, ist so bekannt wie vielfach beschworen: Der zu seiner Zeit vom römischen Publikum meistgefeierte Dichter Ovid wird für seine letzten Lebensjahre nach Tomis ans Schwarze Meer und damit an die Peripherie des Römischen Reichs verbannt. Zwar trifft ihn mit der relegatio die gegenüber dem exilium mildere Form der Verbannung, so dass er immerhin Bürgerrecht und Vermögen behalten durfte; dennoch macht er keinen Hehl daraus, dass es für einen Schriftsteller – der ja seine Leserschaft auch emotional in höchstem Maße benötigt – kaum eine größere Strafe geben kann, als vom intellektuellen Leben und dem gewohnten Publikum abgesondert zu werden. All dies findet, vom princeps Augustus höchstpersönlich per Edikt initiiert, im Jahre 8 n. Chr. statt, und über die Gründe dafür können wir bis heute nur spekulieren – sei es dass Ovids Lehrgedicht über die Liebe (Ars amatoria) tatsächlich nicht in Einklang zu bringen war mit der augusteischen Reform der Ehegesetze, sei es dass er als Mitwisser einer Intrige am Kaiserhof politisch nicht mehr zu halten war. Der Dichter inszeniert sich hier bekanntlich selbst geschickt als Unwissender, der nicht sagen kann, was genau ihm sein Schicksal denn so dermaßen verhageln konnte (Trist. 2, 207: carmen et error).
Des einen Leid, der Nachwelt Freud: Für uns heutige Leser kann – mit ein wenig Egoismus gewendet – die Verbannung Ovids als Glücksfall gelten, verfasste er doch – beginnend nach eigener Aussage bereits auf der Schiffsfahrt (Trist. 1, 2; 1, 11) – mit den Tristien („Lieder der Trauer“) elegische Texte, die ohne Übertreibung geradezu als archegetische Form der Exilliteratur gelten dürfen und gegenüber den kanonischen Schullektüren wie den Metamorphosen, den Amores und eben der berüchtigten Ars amatoria aus dem Corpus Ovidianum zu Unrecht in die zweite Reihe gerückt sind. So unterschiedlich lang diese Trauerlieder auch sind (ihr Umfang schwankt zwischen wenigen Distichen und einem ganzen Buch), so beharrlich sind sie von nur wenigen und dabei sehr facettenreich komponierten Grundthemen durchdrungen. Ein zum Jahresausklang vielleicht in besonderem Maße interessierendes Sujet ist das immer wieder aufscheinende Verhältnis von Aufbruch und Abschied: So spricht Ovid gleich zu Beginn sein Buch apostrophisch an, das „ohne [ihn] in die Stadt gehen [wird]“ (Trist. 1, 1, 1); er bemüht das traurige Bildnis derjenigen Nacht (Trist., 1, 3, 1: noctis imago), in der ihn der Bannstrahl des Kaisers traf und die er gleichsam in Rom zurücklassen möchte – was wiederum gar nicht so einfach ist, da jene Nacht ihn nun einmal regelmäßig in seiner Einbildungskraft heimsucht; er erhebt sein Buch zum Stellvertreter seiner selbst und lässt es nach Rom zurückkehren; mehr noch: Er imaginiert dabei die Hand eines römischen Lesers, der das Buch freundlich willkommen heißt (Trist. 3, 1, 2: placidam … manum).
Kurz, Ovid lässt in den Tristien diejenige Stadt hinter sich, wohin seine Bücher – und mit ihnen der Dichter selbst – dann immer wieder aufs Neue aufbrechen werden. Die Dichtkunst wird dadurch zu einer hochgradig dynamischen Angelegenheit; sie überwindet prekäre Lagen, weil ihre Technik auf dem Vorstellungsvermögen beruht und sich diese Freiheit nicht beschränken lässt. Das fortgesetzte Spiel mit Zeitlichkeit (Abschied und Aufbruch) und Räumlichkeit (Nähe und Distanz), inszeniert als Erfahrungswelt zwischen äußerem Sachzwang und eigenem Gefühlsapparat, darf bis heute fraglos zu den Grundideen des Elegischen gezählt werden; jedoch wurden diese in den letzten zweitausend Jahren nur selten so reizvoll und raffiniert in Szene gesetzt wie hier.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen