„Vorsicht vor den Achtzigjährigen!“

Hans Jürgen Syberberg erreicht ein biblisches Alter

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

„Unser Leben währet siebzig Jahre“, heißt es im 90. Psalm, „und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“ Im Falle des Schriftstellers und Filmschaffenden Hans Jürgen Syberberg (HJS) ist es auch Eleganz, Schönheit und Lebenskunst, und nicht nur gewesen, sondern sie dauert an.

Am 8. Dezember 1935 in Nossendorf (Vorpommern) geboren, wuchs Syberberg nach der Enteignung des Vaters, einem kleinen Gutsbesitzer, in Rostock auf. Dort ging er auf das Goethe-Gymnasium, dort erlernte er mit dem Vater die Kunst des Fotografierens. Noch als Schüler filmte er im Format „Acht Millimeter“ eine Theaterprobe des Brechtschülers Benno Besson – denn dieser inszenierte am Rostocker Volkstheater Molière „Don Juan“. Diese Filmarbeit führte zu einer Einladung Brechts nach Berlin, wo Syberberg dessen – inzwischen verbotene – Inszenierung des „Urfaust“ mit der Kamera festhielt: Brecht setzte eigens und privatissime eine Aufführung an, damit Syberberg sie filmen konnte, und mit seiner „Eumig“ durfte er sogar auf die Bühne. Erst Jahre später kamen seine sensationellen Aufnahmen in die Öffentlichkeit. Syberbergs Mitschnitt ist die einzige Filmaufnahme einer Brecht-Inszenierung geblieben.

Damals genoss HJS Berlin – und schwänzte die Schule. Mit einer Unterschrift Brechts kam er in jedes Theater, in jede Inszenierung hinein und kostete dieses Kulturleben weidlich aus. Weil sich diese Phase nicht auf Dauer stellen ließ, ging der Gymnasiast, mittellos, in den Westen, machte dort sein Abitur und studierte, von „öffenlichen Mitteln“ alimentiert. Er erarbeitete kleinere Filmbeiträge für das Fernsehen und drehte bei Proben in den Kammerspielen. Der schwer zugängliche Fritz Kortner wurde sein Mentor („Was Brecht im Osten war, war Kortner für den Westen“) – über Kortner und seine Arbeit hat er gleich zwei Dokumentarfilme gedreht.

Die weiteren Stationen sind bekannt. Syberberg experimentierte, beeinflusst von der französischen Stilrichtung der Nouvelle Vague (ohne künstliches Licht, oft mit langen Einstellungen, auch mit der Handkamera). Die visuelle Ästhetik seines ersten Spielfilmes, „Scarabea“, bezeichnet er als „ausgedacht, nicht perfekt“ – 300.000 Mark nur habe die Produktion gekostet: „Schon mit diesem ersten Film war ich in Opposition mit den Medien.“ Der Titel („Wieviel Erde braucht der Mensch“) war toll: „Ein Wahnsinnswort, das Tolstoi da gefunden hat.“ Aber der Filmverleih wollte ihn nicht, also musste sich HJS eine Alternative überlegen: „In dem Setting, das auf Sardinien gedreht wurde, kam auch ein Skarabäus vor. Daraus wude ›Scarabea‹, der Name eines Mädchens, das, fast nackt, als Köder auf das Filmplakat sollte: Man beugt sich dem kommerziellen System.“

Syberberg berichtet, wie er unversehens zum Antipoden wurde, von den Kritikern verrissen, von der Filmförderung gemieden: „Und da in den entscheidenden Gremien vielfach auch die Journalisten saßen, die meine Arbeitsweise nicht mochten, war es für mich zunehmend schwer, an Fördermittel zu gelangen. Das war das Establishment, in der Kunst, das es natürlich auch im Westen gab.“

Nicht bekannt ist, dass ich Anfang der achtziger Jahre in München das Arri-Kino in der Türkenstraße besuchte, wo Syberbergs „Parsifal“ lief. In der Pause stand dieser seltsame Meister mitten unter uns. Mehr als dreißig Jahre später, im September 2015, verschlägt es mich nach Demmin in Vorpommern. Syberberg, der in München lebt, hat nach der Wende den elterlichen Hof wiedererworben, wo er im Sommer lebt – in Nossendorf, unweit von Demmin, dieser im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit schwer heimgesuchten, traumatisierten Hansestadt am Zusammenfluss der Peene, der Tollense und der Trebel. Seit 2001 erst lebt Syberberg wieder in seiner vorpommerschen Heimat, und doch hat er sich hier schon wieder einen kreativen und kreatürlichen Kosmos geschaffen. Sein Dorf lebt auf, die Kirche ist saniert, die Festspiele Mecklenburg-Vorpommerns gastieren in seiner Scheune. Was fehlt noch? Der historische Weg zum Friedhof soll wieder freigelegt werden.

Demmin – ein geschundener Ort

Nun aber Demmin: In dieser in Krieg und Nachkrieg weithin zerstörten Stadt hat Syberberg eine Kunstaktion initiiert: er hat versucht, der Stadt etwas von ihrem früheren Gesicht und ihrem historischen Charme wiederzugeben, indem er die den Bomben (und dem Sozialismus) zum Opfer gefallene Südseite des Marktes mittels bedruckter Planen wieder sichtbar gemacht hat. Ursprünglich waren die fünfzehn Flurstücke der südlichen Marktseite kleinteilig bebaut gewesen, es dominierten ein Geschäft für Mode und Konfektionswaren (Richard Hüneke) und ein Gasthof (Mecklenburger Hof). Schwierig war es für Syberberg, an Originalaufnahmen von damals zu kommen – das „Enthüllungs-Projekt“ (in Anlehnung an Christo und Wikileaks) sollte mittels großzügiger „Marktplatzkulissen“ demonstrieren, wie der urbane Charakter durch Zerstörung und Zerfall verlorenging. Nur allmählich heilen die Wunden: Die Diakonie schließt gerade eine Baulücke zur Tückmantelgasse (dahinter liegt der Kirchplatz mit der dominanten Stadtkirche St. Bartholomaei), und nun verhüllen die bedruckten Planen, die Syberberg in Auftrag gab, die offene Flanke des Marktes, wenn auch nur auf Zeit. Und diese Aktion lockte die Demminer aus den Häusern, machte sie wieder sprechen. Und auch Syberberg profitierte: „Demmin ist ein geschundener Ort, der durch Beschäftigung für mich einen Wert bekommen hat.“

Am Hafen liegt ein schönes Ensemble alter Speicher: der Lübecker Speicher am Bollwerk (um 1815/1820 errichtet) wird heute von Kulturschaffenden genutzt; hier erzählt Syberberg von seinen Plänen und Begegnungen. Daneben, an der Ecke Kahldenwallweg und Bollwerk (ein früherer Inhaber war Paul Zimmer: Schiffsproviant, Kolonial- und Materialwaren), steht der etwas jüngere Berliner Speicher, der – gegen Ende des 19. Jahrhunderts erbaut – noch als Speicher genutzt wird; weiter links ein moderner Stahlbetonsilo aus dem Jahre 1940, erbaut von Großkaufmann Otto Klänhammer (noch als Getreidespeicher genutzt).

Gegenüber wird die blaue Klappbrücke über die Peene gerade hochgezogen, als Syberberg angelaufen kommt. Gleich hinter ihm Hans Pölkow, der mit Syberberg bei Brecht filmte und fotografierte. Er hat eine Serie mit Künstlerfotos dabei, ausgerechnet aber die Aufnahme mit Heiner Müller fehlt. Müller ist Syberberg wichtig: „Es gab auch Gutes in der DDR“, sagt er, „Heiner Müller gehörte dazu, so wie unter Stalin Schostakowitsch und Eisenstein arbeiten konnten.“ Ansonsten sei die DDR nicht sein Thema: „Zu grau, zu langweilig, zu trist.“ – „Aber“, fällt er sich ins Wort, „Brecht liebte das Graue, die Bühne, die Kleider, die Vorhänge – alles in Grau!“

Syberbergs Tolstoi-Film „Scarabea. Wieviel Erde braucht der Mensch“ von 1968 soll am Abend gezeigt werden. Hans-Herrmann Clemens, der Leiter des Demminer Regionalmuseums, öffnet den Lübecker Speicher zur Vorfeier von Syberbergs 80. Geburtstag.

„Was da ist, mit den achtzig, ist mir fremd.“

Ein alter Speicher in Demmin mit improvisierter Bühne und Leinwand – wie ein geräumiges Aufnahmestudio auf uns wirkend: das „Ur-Studio“ mit kulturellen Querbezügen in Form von (häufig unausgewiesenen) Zitaten. Ein Kamerateam ist anwesend, es arbeitet an einer Langzeit-Dokumentation über die Region und hofft auf einen sentimentalen Abstecher in die Welt der Fantasie. Die große Studio-Totale zu Beginn lässt schon viele der bescheidenen Requisiten erkennen. Der Tisch mit den beiden Stühlen, an dem Syberberg und Clemens Platz nehmen, könnte einen Raum moralischen Gerichts definieren, wären da nicht die Sektkelche. Auf den Jubeltag angesprochen, sagt Syberberg: „Was da ist, mit den achtzig, ist mir fremd… Vorsicht vor den Achtzigjährigen!“

Eine imaginäre „Ehrengästin“ wird erwähnt, von der einige Sitzmöbel im Speicher stammen – Sofa und Sessel, einen „Raum der grüblerischen Meditation“ stiftend. An den Wänden einige Bilder befreundeter Künstler, auch aus der Region. Weit zurück führt das Foto mit Susan Sontag, die Syberbergs Hitler-Film als „das ehrgeiziste symbolische Kunstwerk des [20.] Jahrhunderts feierte.“ Das war 1977.

Im Lübecker Speicher steht vorne der einfache Tisch mit dem Jubilar und seinem Befrager, seitlich (links) stehen die wohnzimmerlichen Sitzmöbel vom Sperrmüll, anderseitlich (rechts) die Plakate und Projektionen. Einen emblematischen Raum definiert die Requisite aus „Scarabea“: der Mensch im Proportionsschema von Leonardo da Vinci, in spannungsvoller Nähe zum „Enthüllungs-Projekt“ aufgehängt – die Zeichnung mit dem Kopf, auf den geschossen wurde, „Archaik des Todes und des Lebensbogens“. Jetzt hängt sie zumeist im acht Kilometer entfernten elterlichen Gutshaus.

Die Festgesellschaft im alten Kornspeicher steht bereit, diese Allegorie unterdotierter Zeichenproduktion auf sich wirken zu lassen: ein „Kino-Walhall“ mit lebendigen Darstellern.

Hans-Herrmann Clemens ergreift das Wort, begrüßt die Gäste und den Ehrengast und referiert Syberbergs Kindheit und Jugend: „Die Mutter hat das Haus relativ früh verlassen – über die Gründe hören wir vielleicht noch etwas mehr.“ Die Heirat mit Helga, wann war die noch genau? HJS zuckt die Achseln, er weiß es nicht. Helga Syberberg antwortet aus der ersten Reihe: „Im nächsten Jahr feiern wir Goldene Hochzeit.“ – Syberberg: „Frauen wissen so etwas.“

Erläuterungen des Films und des Bewusstseins

Der ungewöhnliche Werdegang des Vaters wird erwähnt: Ein Gutsbesitzer, bis 1933/34 auch Bürgermeister des Dorfes, der 1947 eine Verzichtserklärung für seinen Hof unterzeichnen musste, faktisch also von den Russen von seinem Land vertrieben wurde, geht in die Stadt und absolviert in Rostock eine Fotografenlehre nach alter Schule, wird – schon weit über vierzig – Lehrling, Geselle und Meister. Der halbwüchsige Sohn lernt gleich mit, was der Vater lernt, bald weiß er alles über das Licht und die Belichtung, die Materialien und die Gerätschaften, die Technik und die Motive, die naiven und die raffinierten Gestaltungsformen. Bester Freund in diesen Jahren ist Hans Pölkow (selber Jahrgang wie Syberberg) – auch er wird Fotograf und spezialisiert sich auf den Musikjournalismus. Wer in der DDR gastierte, kam ihm vor die Linse: Gilbert Bécaud und Udo Jürgens, Juliette Gréco und Leonard Bernstein, Yehudi Menuhin und David Oistrach… Pölkow arbeitet noch karger, noch gezielt ärmlicher als Syberberg – gern verzichtet er sogar auf die Attribute der Künstler (Armstrong ohne Trompete). Nun ist er dabei, als sein Freund aus Jugendtagen gefeiert wird, und er hat einige Porträtaufnahmen mitgebracht. Nur Heiner Müller fehlt.

Clemens und Syberberg: Mit Aufzählungen, Fragen, historischen Anekdoten ebenso wie mit mannigfachen Erläuterungen des Films und des Bewusstseins, das dahinter steht, halten die zwei grübelnden, meditierenden Vertreter der Gegenwart auf dem Proszenium ihre intellektuelle Begleitmusik in Gang. Ein Thema, das ihn (HJS) umtreibe, sei Hitler. Weshalb? Dieser Hitler, antwortet HJS, verkörpere eben das Ende eines „romantischen Traumes“. Die Figur sei schon in seinem „Ludwig“-Film („Requiem für einen jungfräulichen König“) angelegt gewesen – ungewohnt und ungewöhnlich. (Auch in seinem Karl-May-Film übrigens.)

Clemens zitiert Susan Sontag, die Syberbergs Filmschaffen als „antiquiertes Tun“ bezeichnet und an die „Schlichtheit seiner Ursprünge“ erinnert. Eine Kunst, die aus der Not geboren wurde, aus der bildungsbürgerlichen Tradition und aus der historischen Hypothek der Deutschen. Susan Sontag: „Wie Thomas Mann sieht auch Syberberg im Nazismus die Träume der deutschen Romantik auf groteske Weise eingelöst – und verraten. Es mag sonderbar erscheinen, daß Syberberg, der während des Dritten Reiches noch ein Kind war, so viele thematische Gemeinsamkeiten mit jemand so ›Altfränkischem‹ aufweist. Aber in Syberbergs Sensibilität steckt eben sehr viel Altmodisches (möglicherweise ein Ergebnis der Schulbildung, die man in einem kommunistischen Land genießt) – und das betrifft auch seine entschiedene Solidarität mit jenem Deutschland, dessen hervorragendste Bürger ins Exil gingen.“

Hans Clemens kommt auf das Gespräch, das André Müller mit Regisseur Hans Jürgen Syberberg für ›Die Zeit‹ geführt hat: „Man will mich töten“. Dieser „Hundfott“ habe ihn vorgeführt, so Syberberg: „Aber nun ist er auch schon tot.“ Syberberg macht weiter. Darin liegt die einzige Unlogik, die man ihm vorwerfen könnte: Er stiftet sein Werk, obwohl er weder an eine Welt danach, noch an die Schöpfung, noch an den Menschen glaubt. Syberberg kehrt immer wieder zurück und sorgt sich und schaut nach den Dingen: „Ich baue in der Kunst eine Gegenwelt, und ich wünsche mir, daß die Sachen bleiben, wenn ich gestorben bin.“