Erlauchte Versammlung

Manfred Flügge hat eine Familienbiographie der Manns geschrieben

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich“, lautet der berühmteste Satz aus dem Roman „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi und gleichzeitig die wohl berühmteste Romaneröffnung aller Zeiten. Ein Zitat von Klaus Mann könnte am Anfang von Manfred Flügges neu erschienener Kollektivbiographie über die Manns stehen:  „Was für eine sonderbare Familie sind wir! Man wird später Bücher über uns – nicht nur über einzelne von uns – schreiben“. In Büchern und Filmen ist die Geschichte der Manns vielfach behandelt worden. Manfred Flügge entwickelt  in seinem neuen Buch „Das Jahrhundert der Manns“ ein mehr als 100 Jahre umspannendes Panorama der legendären Künstlerfamilie, auch die Familienzweige der Dohms und Pringsheims werden einbezogen. Außerdem will Flügge mit seinem Buch ein neues Verständnis der geistigen, politischen und kulturellen Entwicklung Deutschlands bis heute liefern.

Der Autor befasst sich seit 30 Jahren mit dem literarischen Exil, er hat über die Exilorte Paris, Sanary, Nizza und Los Angeles sowie eine Biographie über Heinrich Mann geschrieben. Die  Geschichte der Familie Mann wird von Flügge über vier Generationen erzählt, sie ist „eine Glücksgeschichte, die aus lauter kleinen Tragödien besteht“. Thomas Mann schrieb 1942 an seinen Sohn Klaus: „Es ist doch eine wirklich erlauchte Versammlung, aber einen Knacks hat jeder“.

Die eigentliche Literatendynastie wurde von den Brüdern Thomas und Heinrich Mann gegründet, die ihre familiären und geistigen Gemeinsamkeiten zuweilen vergaßen und zu unerbittlichen Gegnern wurden. Von Lübeck, wo die beiden Söhne des Getreidehändlers und Senators Mann geboren wurden, bis Venedig, von München bis Los Angeles, von Capri bis Halifax sollten die Schicksalswege der einzelnen Familienmitglieder über Generationen reichen. Man hat sie, als sie ins Exil gingen, als das andere, das bessere Deutschland wahrgenommen. Von Thomas Mann – wem sonst – stammt das Wort: „Wo ich bin, ist Deutschland“.

Flügge stellt das politische Denken und Handeln sowie die wichtigsten Werke der Manns in engem Zusammenhang mit ihrer Zeit- und Lebensgeschichte dar. „Indem Thomas Mann“, so Flügge, „an einer Humanisierung des Mythos arbeitete, wurden er und die Seinen selbst zu einem Monument der deutschen Kulturgeschichte“. Zwischen dem Erscheinen der ersten Romane der Brüder Mann im Jahre 1901 und der Ausstrahlung eines Dokumentationsdramas über die Manns von Heinz Breloer im Jahre 2001 liegt ein ganzes Jahrhundert der Katastrophen und Kriege. Wie in diesen 100 Jahren mit den produktiven und provozierenden Manns umgegangen wurde, das sagt auch viel über die Zustände dieses Landes aus.

Im Werk Golo Manns, des dritten Sohnes von Thomas Mann, erreicht die Auseinandersetzung der Familie Mann mit ihrem Jahrhundert den „Höhepunkt und Abschluss“, so Flügge. Golo Manns Persönlichkeit, die „von Einsamkeit und Skepsis“ geprägt war, ging einher mit „engagierter Zeitgenossenschaft“. Der Historiker Golo Mann hat die Familie Mann in ihr Jahrhundert einzuordnen und ein besseres Verständnis der Deutschen für ihre Geschichte herzustellen versucht. Die Familie ist durch ihre künstlerische und wissenschaftliche Produktivität, ihr Handeln und Schreiben selbst Gestaltungsfaktor der jüngeren deutschen Geschichte sowie der Literaturgeschichte geworden. 

Dabei hielten sich bei den Manns Glück und Unglück, Erfolg und Scheitern nicht immer die Waage: Da ist beispielsweise der schwere Konflikt der berühmten Brüder zu nennen. Außerdem begingen die Schwestern Carla und Julia Selbstmord. Es gab das schrille und spektakuläre Auftreten der Thomas-Mann-Kinder Erika und Klaus in den 1920er-Jahren. Es gab unterdrückte und ausgelebte Homosexualität, Widerstände und Verletzungen, die erdrückende Dominanz des Vaters. Da war die KZ-Haft von Mimi Mann, Heinrichs erster Ehefrau, an deren Folgen sie 1947 starb. 1949 dann der Freitod Klaus Manns in Cannes. Man denkt auch an Monika Mann, die Ausgestoßene, und Michael, erst Musiker, dann Literaturwissenschaftler. Der führte ein „infantilistisches Leben“, wie er selbst sagte. Man fand ihn am 1. Januar 1977 tot auf, in seinem Blut Alkohol und Schlafmittel. Nur Elisabeth Mann Borgese, die Jüngste, beteuerte, unter dem Vater nicht gelitten zu haben. Und da waren auch die „Novellenverbrechen“, die von Thomas, Heinrich und Klaus Mann begangen wurden, das heißt die Einbeziehung von Familienmitgliedern als Figuren in den Novellen und Romanen. Thomas Manns Enkel Frido war eines der „Opfer“. Frido, „Lieblingsenkel“ Thomas Manns, der diesen als Vorlage, als „lebendes bzw. überlebendes Modell“ für den kleinen Nepomuk Schneidewein beziehungsweise „Echo“ nahm, den er im „Doktor Faustus“ vierjährig an einer eitrigen Hirnhautentzündung sterben lässt. Frido Mann sprach noch Jahrzehnte später über die „Voraussetzungen, die möglichen Motive, die Implikationen und Folgen dieses literarischen Vorgangs auch für ihn selbst“. Zu den Manns zu gehören war ein „problematisches Glück“, bemerkte Klaus Mann einmal.

Dies hat man natürlich alles irgendwo schon einmal gelesen, sehr ausführlich und in Einzelporträts etwa bereits vor 25 Jahren im „Netz der Zauberer – Eine andere Geschichte der Familie Mann“ von Marianne Krüll. Das Buch von Manfred Flügge besticht vor allem durch seine Dichte, seine Spannung und neues Material, das eingearbeitet wurde. Außerdem wurden die Einzelerzählungen klug miteinander verwoben. So entsteht vor unseren Augen das Bild einer Familie, die auf ihre je besondere Art und Weise, mit ihren Konflikten und ihrem aufrechten Gang, den Wirren und Schrecken ihrer Zeit entgegenzutreten versuchte.

Titelbild

Manfred Flügge: Das Jahrhundert der Manns.
Aufbau Verlag, Berlin 2015.
352 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783351035907

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