Grenzbestimmungen und Überschreitungen

Zwei Sonderhefte des Archivs für Begriffsgeschichte nehmen die Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts ins Visier

Von Cathrin NielsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cathrin Nielsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19tes Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.“ Was Friedrich Nietzsche hier über die Methode schreibt, lässt sich in einem gewissen Sinne auch auf die „Schlüsselbegriffe“ der vergangenen drei Jahrhunderte anwenden: Sie avancieren zu epochebildenden patterns, setzen spezifische Zukunftsbilder frei und zeichnen Trajektorien des Aufbruchs vor. Dies gilt erstmalig für das 18. Jahrhundert, das sich als das Jahrhundert der „Aufklärung“ zum Ziel setzte, die Wirklichkeit in einem homogenen Konzept zu fassen beziehungsweise so lange umzuändern, bis es sich diesem Grundgerüst fügt.

Dass es bereits für das 19. Jahrhundert schwerfällt, eine derart einheitliche Epochenbezeichnung zu finden, hängt nicht zuletzt mit der Dynamisierung einiger seiner zentralen Vorstellungen zusammen: Begriffe wie „Energie“, „Weltanschauung“, „Entwicklung“ oder „Fortschritt“ lassen eine Mobilisierung des geschichtlichen Ortes erkennen, die seine Substanz verwandelt und den deskriptiven Gehalt des Begriffs einer offenen, verhandelbaren Zukunft anvertraut. Erst mit dem Ende des Kalten Krieges beginnt (zusammen mit der „Zukunft“) der proklamatorische Charakter derartiger Begriffe zu verblassen; in der Dämmerung der „breiten Gegenwart“ (Hans Ulrich Gumbrecht), in der wir uns heute befinden, setzen zahllose Eulen der Minerva zum Flug an. Zwar ist die „Arbeit des Begriffs“, wie Georg Friedrich Wilhelm Hegel die philosophische Synopse in der bildlichen Umschreibung von der ‚Eule der Minerva‘ zusammenfasste, im Blick auf ein absolutes Wissen fragwürdig geworden. Nicht aber die Arbeit des Begriffshistorikers, die zunehmend eines ganzes Sets an Methoden, Aufmerksamkeiten und Blickwendungen bedarf. Ihm, so die Herausgeber Christian Bermes, Ulrich Dierse und Annika Hand in ihrer knapp gehaltenen, aber instruktiven Einleitung, steht es nicht an, „Entwicklungen zu bedauern, zu kritisieren oder zu loben; er hat sie zu registrieren, ihre Genese und ihre Wendungen aufzudecken“.

Das „lange“, vorläufig mit dem Ersten Weltkrieg endende 19. Jahrhundert, nimmt mit der Französischen Revolution seinen Ausgang, und dieser markiert bereits den entschiedenen Gestus einer folgenreichen Absage an die Last der Geschichte. Reinhart Koselleck hat die damit verbundene Etablierung der Zukunft als den Chronotyp des „historischen Denkens“ herausgestellt, der die Signatur der Moderne ausmacht. Nach dieser Zeitauffassung eröffnet sich von einem flüchtigen Jetzt her auf der einen Seite der offene Horizont der gestaltbaren Zukunft, auf der anderen das Reich einer (nicht mehr gestaltbaren) Vergangenheit. Das „Jetzt“ ihrer Vermittlung fällt zugleich zusammen mit dem Ort des modernen Subjekts, das sich am Konzept des irreversiblen Zeitpfeils beständig von einer nicht mehr aktuellen Vergangenheit absetzt und in den offenen Horizont zukünftiger Möglichkeiten entwirft. Die Verzeitlichung durch die Kategorie der Zukunft wird somit auf eine bislang nicht gekannte Weise aktuell.

Der in ihr ausgedrückte „Beherrschungswille“ (Gunter Scholtz) erfasst nicht nur die soziale und politische Geschichte, sondern alle Wirklichkeitsbereiche einschließlich der Natur. Die Philosophie verliert ihre Rolle als „erste Wissenschaft“ und wird durch durch Psychologie, Soziologie und Ökonomie überlagert. Während Hegel noch einmal die ganze Metaphysikgeschichte als eine Art Klaviatur des Geistes evoziert, um sie zuletzt im Absoluten aufzuheben, treten die Wissenschaften im Sinne eines Siegeszugs der Methode an, die alles (nur nicht sich selbst) als im Grunde beliebige „Weltanschauung“ erscheinen lässt. Zugleich ruft der Zusammenbruch der ‚alten Welt‘ apokalyptische Untergangsvisionen hervor, verbunden mit Resurrektionen und Nostalgien versunkener Epochen.

Es ist das Zeitalter der „Parallelaktionen“, in denen Neobarock neben neuer Sachlichkeit, neuarchaische Kosmologien neben futuristischen Manifesten gleichermaßen aus dem Boden sprießen. Dies wird nicht zuletzt in den stark differierenden Metaphern offenkundig, die (wie Ulrich Dierse in seinen lesenswerten Beitrag zum Schlüsselwort „Geschichte“ zeigt) im 19. Jahrhundert das Abstraktum „Geschichte“ versinnbildlichen sollen: Sie reichen vom konservativen Bild einer „Gemäldegalerie“ (Alexis de Tocqueville), der es nichts Wesentliches mehr hinzuzufügen gelte, über den bloßen „Strom“, dem ihre selbstbewusstere Auffassung als „Webstuhl“ und „Theater“ gegenübersteht, an dessen „Script“ der Mensch wesentlich beteiligt sei, bis hin zum „Rätsel“, das Friedrich Engels als durch den dialektischen Materialismus endlich gelöstes ausruft.

Mehr noch als für das 19. scheint für das 20. Jahrhundert eine übergreifende Epochenbezeichnung zu fehlen. Zwar bieten sich durchaus schlaglichtartige Bezeichnungen an wie „Zeitalter der Extreme“ und Totalitarismen, „Atomzeitalter“, postindustrielles oder postmodernes Zeitalter beziehungsweise Zeitalter der „Kulturellen Kristallisation“ (Arnold Gehlen), das sich heute durch gesamtgeschichtlich verselbstständigte „Superstrukturen“ wie Technik und Information organisiert. Interessanter als die Epochenumgrenzung scheint jedoch Frage, ob und inwiefern sich das 20. Jahrhundert, das 1989 mit dem Ende des Ost-West-Konflikts endet (oder in den 1990ern mit Google), in einer Kontinuität mit dem 19. Jahrhundert lesen lässt. Markiert es eine Weiterschreibung letztlich ‚unverdauter‘ Fragestellungen oder aber einen Bruch, wie Aleida Assmann es in „Ist die Zeit aus den Fugen?“ kürzlich nahelegte, vor allem einen Bruch mit dem „historischen Chronotyp“? Sind nach wie vor die „Phänomene der Verzeitlichung und Ideologisierung der politisch-sozialen Termini, die Reinhart Koselleck so nachdrücklich für denen Umbruch in der Zeit zwischen 1750 und 1830 verantwortlich machte, auch für das 20. Jahrhundert zu konstatieren“, oder ist diese Verzeitlichung einer „Stauung der Zeit“ gewichen, wie Hans-Ulrich Gumbrecht dies beschreibt, einer Gegenwart, die wir „gar nicht mehr hinter uns zu lassen glauben, sondern uns von materiellen und immateriellen Überresten der Vergangenheit gleichsam überflutet finden: […] nie war, vor allem dank elektronischer Technologien, mehr an Vergangenheit für uns direkter und unproblematischer vorhanden. Zugleich wird unsere Zukunft keineswegs mehr als ein offener Horizont von Möglichkeiten erlebt, sondern als eine Reihe von Bedrohungen, die auf uns zukommen. Zwischen jener anderen Vergangenheit und dieser anderen Zukunft hat sich unsere Gegenwart mittlerweile beständig verbreitert – man könnte sagen, sie ist zu einer Gegenwart der Latenz geworden, in der wir auf das Kommen der Zukunft warten, statt uns, sie wählend, in sie hineinzubewegen.“

Kontinuität oder Neuanfang? Hier legen sich die Herausgeber zu Recht nicht fest, sondern belassen es bei einer Skizze. Denn Weiterschreibung und Bruch gehen nicht selten hinter ihren vordergründigen Etiketten Bündnisse ein, komplexe Allianzen, die Keime für neue Geschichten legen. Und nicht zuletzt hier sind es wiederum die Begriffe selbst, die die verwobenen Sinnstrukturen im philosophischen Denken des 20. Jahrhunderts entschlüsseln können und deren „Analyse eine Topologie des philosophischen Terrains dieser Zeit ersichtlich werden lässt“. Deutlich neues Gewicht erhalten zumindest Konzepte wie „Dialog“, „Existenz“, „Paradigma“ oder „Utopie“. Insgesamt lässt sich jedoch eine Tendenz der Verstärkung bereits angelegter Tendenzen verzeichnen, die man im Blick auf das 20. Jahrhundert so zusammenfassen könnte: 1) Es kommt zu einer unausgesprochenen Akzeptanz des strategisch-ideologischen Charakters öffentlich wirksamer Begriffe; sie dienen zunehmend weniger der Beschreibung von Wirklichkeit als einer Durchsetzung von Interessen. 2) Utopische Parolen nehmen zunächst massiv zu, um dann nach 1945 und 1989 ihre Kraft zu verlieren. Auf Revolutionen und futuristische Konzepte folgen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Ernüchterung, die Proklamation eines Endes der Ideologien, ja eines „Endes der Geschichte“ und eine damit verbundene moralischen Aufwertung der Umwelt und des Ästhetischen. Das Medium beginnt auf eine gewisse Weise, den „Begriff“ abzulösen: „The medium is the message“ (Marshall McLuhan) – „Nicht was Medien übermitteln zählt, sondern wie“ konstatiert Dieter Mersch in seinem Beitrag zum „Medium“.

Begriffsgeschichtlich verläuft das 20. Jahrhundert alles andere als geradlinig, sondern wird durch kontrastive Strömungen bestimmt: dem Umbruch folgt das Geschichtliche, der Technik die Sehnsucht nach Natur, der Wissenschaft die Aufwertung der „Lebenswelt“, der Rationalität das leibliche Subjekt. Gerade das wechselseitige Hervorrufen des jeweiligen Desiderats verleiht in mancher Hinsicht dem feiner, fragiler, aber auch haptischer werdenden Begriffsnetz (man denke nur an die Etablierung eines phänomenologischen Diskurses der „Spur“, der „Falte“, des „Diaphanen“ et cetera) einen antwortenden Charakter.

Disparate Selbstverständigungsversuche wie diese verlangen disparate Zugänge: So könnte das 20. Jahrhundert, wie die Herausgeber resümieren, dasjenige Jahrhundert sein, das überhaupt „nur in einer Vielzahl von Termini und unter unterschiedlichen Aspekten begriffen werden kann“. Begriffe entstehen an Schnittstellen: zwischen Philosophie und Naturwissenschaft beispielsweise oder zwischen logischer Terminologie und Alltagssprache. Die Bewegung des „Destruktion“, die sich (etwa bei Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein) auf die starre philosophische Terminologie bezieht, unterläuft einförmige Diskurse und markiert den Versuch, den semantischen Gehalt etablierter Begriffe „in und durch Grenzbestimmungen und Grenzüberschreitungen aufzudecken“. Zuletzt bleibt im Grunde die uralte Frage, „ob sich alle Begrifflichkeit in ‚Bildern‘ und ‚Metaphern‘ auflösen lassen oder ob diese nicht selbst wieder auf eine nicht-bildliche Grundlage zurückgeführt werden können und müssen“. Haben sie nicht immer zumindest das Nicht-Metaphorische, die Realität, zum Gegenpol? Eine „Realität“, die über keinen endgültigen Namen verfügt und immer neu an ihren Platz jenseits der Symbolisierung zurückkehrt? Die sich der Verbegrifflichung verweigert und uns doch immerzu dazu nötigt, uns an ihr (auch begrifflich) abzuarbeiten?

Eine Nebeneinanderstellung der in den beiden vorliegenden Bänden gewählten „Schlüsselbegriffe“ vermag einen ersten Eindruck zu geben von der brüchigen, nuancenreichen und längst nicht abgeschlossenen geistesgeschichtlichen Textur, welche die einzelnen Beiträge für sich und gemeinsam dechiffrieren. Für das 19. Jahrhundert sind das Begriffe wie Geist, Nation, Revolution, Unbewusstes, Volk oder Wissenschaft, während es für das 20. Jahrhundert Begriffe wie Bedeutung und Sinn, Existenz/Sein, Identität, Leib/Körper, Macht, Medium, Sprache oder Zukunft und Utopie sind.

Beide Bände, für deren Herausgabe sich die Redakteurin des seit 1955 konzeptuell bestehenden Archivs für Begriffsgeschichte Annika Hand (für das 19. Jahrhundert) sowie (jeweils für beide Jahrhunderte) der Koblenzer Philosoph Christian Bermes und Ulrich Dierse, ehemaliger Kustos am Historischen Wörterbuch der Philosophie, verantwortlich zeichnen, versammeln die analytisch-synoptischen Bemühungen von insgesamt 49 ausgewiesenen Fachkennerinnen und Fachkennern und entwerfen so das beindruckend vielschichtige und nach vielen Seiten offene Panorama einer Zeit, die in vielen Teilen auch noch unsere eigene ist. Ein Personenregister schließt jeden Band ab. Lohnend wäre vielleicht seine Ergänzung um einen Sachindex gewesen, eine Art abstrakten Wegweiser jener Verstrebungen, Fliehkräfte und Feinjustierungen, um die Vielschichtigkeit des Gegebenen und die Möglichkeit der wechselseitigen Bezogenheit und Erhellung der einzelnen Termini aufscheinen zu lassen.

Titelbild

Ulrich Dierse / Christian Bermes (Hg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2010.
461 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783787319169

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Titelbild

Christian Bermes / Ulrich Dierse / Annika Hand (Hg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts.
Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 11.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2014.
529 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783787325252

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